Auge des Mondes
Stehen brachte.
»Eines noch«, sagte Aryandes, »die Straßen sollen voller Goldstaub sein, wenn wir uns dem Tempel nähern. Sorgt dafür, dass reichlich davon vorhanden ist! Und jubelnde Menschen, das sowieso. Wir verabscheuen nämlich ärmliche Inszenierungen.«
Mina hatte das Mädchen schon beim Hereinkommen gesehen, aber dann war es so behände irgendwohin verschwunden, dass ihr kaum Zeit geblieben war, es eingehender zu betrachten. Als das Mädchen sich jetzt wieder dem Tisch näherte, auf dem bereits zahlreiche Schüsselchen mit kalten Vorspeisen aufgetragen waren, langsam und fast übertrieben zurückhaltend, wie es ihr vorkam, fasste sie es schärfer ins Auge.
Sie war schlank, mittelgroß und hatte gewelltes, dunkelbraunes Haar, das ein durchbrochener Schleier zum Teil bedeckte. Ihr rosenholzfarbenes Gewand reichte bis zu den Füßen und hatte am Saum silberne Borten; ein silberbeschlagener Gürtel betonte ihre mädchenhaften Rundungen. Ihr bräunliches, ovales Gesicht fand Mina noch etwas unfertig, aber es begann auf berührende Weise zu leben, als sie lächelte.
»Deine Tochter?«, fragte Mina, obwohl die Augen des Mädchens ihr schon alles verraten hatten. Sie waren blau wie die Numis, aber um einiges dunkler, ein sattes, golddurchwirktes Blau, wie es nur der schönste Abendhimmel über der Wüste zeigt.
Numi strahlte über das ganze Gesicht. Selten zuvor hatte Mina einen stolzeren Vater gesehen. »Das beste Gute «, sagte er, »das bedeutet ihr Name in eurer Sprache.«
»Woher kannst du sie eigentlich so gut?«, fragte Mina. »Wenn man dich reden hört, könnte man dich glatt für einen Mann aus Kemet halten.«
»Wir haben uns gründlich vorbereitet, bevor wir hierher gekommen sind«, sagte Numi. »Das Kind und ich auch. Obwohl wir schon damals wussten, dass es nicht für immer sein würde.«
Das Mädchen war stehen geblieben, hielt den Kopf gesenkt.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?«, sagte Mina. »Nur nicht so schüchtern! Du isst doch sicherlich mit uns.«
»Ein anderes Mal vielleicht«, antwortete Numi an ihrer Stelle. »Die schwüle Hitze nimmt sie sehr mit. Im Land der Arya, unserer Heimat, kennen wir auch heiße Sommer. Aber sie sind so trocken, dass es Spiegelungen inmitten des Gerölls gibt. Und wenn der Winter kommt, schimmern die Gipfel unserer Berge weiß von Schnee.«
»Was ist das - Schnee?«, wollte Mina wissen.
»Regen, nein, besser Wasserteilchen, die gefrieren und dabei hart und weiß werden.« Er erhob sich und rückte den Schleier auf dem Kopf der Tochter zurecht, ein willkommener Vorwand in Minas Augen, um sie zärtlich zu berühren. »Geh schlafen, Liebes!«, sagte er. »Sei vernünftig, mir zuliebe! Morgen wirst du dich besser fühlen.«
»Sie sieht wunderbar aus mit ihrem Schleier«, sagte Mina, während das Mädchen mit einem kleinen Nicken den Innenhof verließ. »So zart und geheimnisvoll.« Sie wusste nicht, was »gefrieren« bedeutete. Danach würde sie ihn ein anderes Mal fragen.
»Er stammt von ihrer Mutter. Und die hat immer nur das Beste geliebt.«
Ein kühler Hauch schien durch den Innenhof zu wehen.
Seine Tochter, dachte Mina, und seine Frau. Oder hat er sogar mehrere Frauen? Jedenfalls hat er nicht lange gezögert, sie ins Spiel zu bringen. Hält er sie vielleicht hier irgendwo versteckt, um mich dann plötzlich mit ihnen zu konfrontieren?
Schon seltsam - von Anfang an war er ihr stets alleinstehend vorgekommen, ein Witwer, ja, das hatte sie gedacht. Wie hatte sie nur davon ausgehen können, wo sie doch rein gar nichts über ihn wusste? Plötzlich kam sie sich lächerlich vor in ihrem neuen, steifen Leinenkleid, in das einzelne bunte Fäden eingewebt waren. Natürlich hatte sie Augen und Lippen sorgfältig geschminkt. Aber sie hatte wenigstens darauf verzichtet, sich mit einer Perücke herauszuputzen, die sie nur noch mehr erhitzt hätte.
»Sie ist nicht bei euch?« Das eingelegte Gemüse, das ihr eben noch so köstlich erschienen war, hatte mit einem Mal jeglichen Geschmack verloren. Aber sie musste weiterfragen. Sie konnte nicht anders.
»Newa?« Er schüttelte den Kopf. »Eines Tages werden wir zu ihr zurückkehren. Unsere Enkel sollen im Land der Väter zur Welt kommen. So hat sie es sich immer gewünscht.«
»Deine Tochter ist schwanger?« Mina hätte sich auf die Zunge beißen können.
»Das will ich nicht hoffen.« Er lachte, aber es klang etwas angestrengt. »Sie ist doch noch ein halbes Kind, wie du eben sehen konntest. Bei uns geht
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