Auge des Mondes
eine dünne Papyrusrolle.
»Weil meine eigenen dürftigen Versuche mir nicht genügt haben, wollte ich lieber einen Kundigeren sprechen lassen. Diese Verse habe ich heute bei einem Schreiber gekauft. Ich glaube, seine Geste umschloss den nächtlichen Garten, ich habe mich für das Richtige entschieden, wenn ich mich hier so umsehe.« Er begann zu lesen:
» Der schöne Ort, wo wir uns ergehen,
wenn deine Hand auf meiner liegt,
und mein Herz wird satt vor Freude,
weil wir zusammengehen.
Ein Rauschtrunk ist es, dass ich deine Stimme höre …«
»Hör auf, Numi, bitte!«, flüsterte Mina. »Nicht dieses Gedicht!«
»Gefällt es dir nicht?«
»Doch. Sehr sogar. Ich liebe es! Aber es hat eine alte Geschichte, eine Geschichte, die ich dir vielleicht irgendwann …« Sie stand auf, zog ihn hoch. »Lass uns nach drinnen gehen!«, sagte sie.
Da waren die Öllämpchen, die Truhen und Körbe und das Bett, auf dem Bastet sich wie eine Kugel zusammengerollt hatte. Bei ihrem Eintreten sprang sie auf und war mit einem Satz unter dem Bett verschwunden.
»Sie war krank«, sagte Mina. »Oder vielleicht sogar noch schlimmer …«
Numi zog sie an sich. Sein Körper war fest und warm. Sie spürte, wie sehr er sie begehrte. Jetzt war nichts mehr zwischen ihnen, keine Grenze, keine Fremdheit, keine Scham. Ganz kurz kam ihr noch ihre nächtliche Inspektion am Teich in den Sinn und die Frage, wie er beim Anblick ihres Körpers reagieren würde, dann dachte sie nicht länger daran.
Alles war, wie es war. Und alles war gut.
Sie küssten sich, lange, innig, hemmungslos, schließlich ließen sie sich auf das Bett sinken. Die Kleider fielen zu Boden. Nur noch das Geräusch ihres erregten Atems war zu hören.
Er schien genau zu wissen, wo sie berührt werden wollte, und diese so lange entbehrten Liebkosungen versetzten Mina in eine Art Rausch. Alles verschwamm vor ihren Augen, sie konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Nur noch sein.
Als sie die Beine öffnete, um ihn in sich aufzunehmen, hörte sie plötzlich ein Poltern an der Türe. Unwillkürlich griff sie nach der Decke, warf sie über sich und den Geliebten.
Amenis große Augen starrten sie an.
»Aber ich wusste doch nicht …«, stammelte er.
»Dann weißt du es jetzt. Raus mit dir!«, sagte Mina. »Aber schnell!«
»Wer war das?« Zerzaust kam Numi unter der Decke hervor.
»Mein Neffe.« Jetzt erst kam Mina die Komik der Situation richtig zu Bewusstsein. Wie ein plumpes Tier mit einem Buckel und vier Beinen mussten sie ausgesehen haben. Sie konnte sich ausmalen, wohin Amenis Fantasie jetzt galoppierte. »Schon ziemlich erwachsen, und ein netter Kerl dazu. Er wohnt für einige Zeit bei mir. Ich hab ja gar nicht daran gedacht.« Sie lächelte Numi an. »Seit ich dich kenne, vergesse ich alles!«
»Dann wollen wir beide schnellstens dafür sorgen, dass es auch weiterhin so bleibt«, sagte Numi.
»Eigentlich hatten wir uns heute schon ausführlich genug unterhalten, meinst du nicht auch? Ich kann nur hoffen, du hast einen guten Grund, mir den Schlaf zu stehlen.«
»Den gibt es allerdings«, sagte der erste Mann. »Die Nachrichten sind mehr als alarmierend. Sie fressen nicht mehr, einige verweigern sogar das Wasser. Eine richtige Epidemie. Wenn das so weitergeht, werden wir auf Holzpuppen ausweichen müssen.«
»Wie viele sind bereits tot?«, fragte der zweite Mann.
»Ein paar Dutzend. Und es scheinen ständig mehr zu werden.«
»Zu viele.«
»Ich weiß. Aber was sollen wir dagegen machen?«
»Verbessert das Angebot. Vergrößert die Menge. Stellt Männer ab, die sie zum Fressen animieren. Unser schöner Plan darf nicht an ihrer Sturheit scheitern.«
»Du hast leicht reden!«, sagte der erste Mann resigniert. »Du weißt doch, wie sie sind …«
»Für jedes Problem gibt es eine Lösung«, sagte der zweite. »Es geht um Kemet, hast du das schon vergessen? Und um uns! Wir müssen alle Kräfte aktivieren. Strengt euch also gefälligst an!«
»Vielleicht wird es besser, wenn wir sie nicht so eng zusammenpferchen, was meinst du?«
»Gute Idee. Die alte Totenstadt steht wie gesagt bereit. Ihr könnt schon heute Nacht mit der Evakuierung beginnen.«
Der erste Mann nickte. Er kam dem anderen noch kleiner vor als sonst, noch windiger, als hätte eine unsichtbare Last seinen schmalen Rücken tief gebeugt.
»Ich werde alles tun, was du verlangst«, sagte er. »Selbst wenn es die größten Opfer kosten sollte.«
»Du wirst es nicht bereuen.« Der zweite Mann
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