Auge des Mondes
den Papyri zu tun hat?«
»Vielleicht«, sagte Mina. »Durchaus möglich. Weißt du, alles kommt mir vor wie ein Dickicht, in dem man sich bei jedem Schritt, den man macht, nur noch tiefer verirrt. Eine ganze Zeit hatte ich sogar Senmut in Verdacht. Aber jetzt glaube ich ihm. Er hat versprochen, diesen Wahnsinn zu beenden.«
»Aber wie will er das schaffen? Weiß er denn, wer dahintersteckt?«, fragte Scheri.
»Senmut weiß immer mehr, als er sagt. Ich glaube, er hat bereits einen sehr konkreten Verdacht. Ich habe ihm die Papyri jedenfalls überlassen. Ich bin richtig froh, sie nicht mehr im Haus zu haben.«
»Und dein Perser? Glaubst du, dass Numi …«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Scheri! Ich war diesem Mann so nah wie keinem anderen Menschen außer Chai. Und dann musste ich aus seinem Mund hören, dass er ein weißes Katzenfell …«
Ihre Augen wurden feucht.
»Du ängstigst dich wegen Mau? Meine kleine Bastet, die mich vor einer Kobra gerettet hat, hatten sie offenbar schon einmal in ihren Fängen. Auf irgendeine Weise konnte sie entfliehen, mit den Fetzen eines Hanfstücks am Hinterlauf, was beweist, dass man sie gewaltsam festgehalten hat. Und jetzt ist sie abermals verschwunden. Ob sie nun dort ist, wo auch Mau gefangen gehalten wird?«
»Und wenn wir zu spät kommen, Mina?« Jetzt begannen auch Scheris Augen verdächtig zu glitzern. »Und sogar Senmut zu schwach ist, um das Schreckliche aufzuhalten? Wenn die Feuer schon brennen, noch bevor wir …«
»Sei sofort still!« Mina umarmte sie ungestüm. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Nicht bis zum allerletzten Augenblick!«
Senmut lag bäuchlings vor der großen Statue, die Arme ausgestreckt, die Beine geschlossen, tief versunken im Gebet.
»Erhöre mich, Ewige!« Seine Lippen waren rissig, denn er hatte nicht nur vergessen zu essen, sondern auch zu trinken. »Du Zürnende, zu der bald die Pilgerinnen von nah und fern strömen werden, sei unserer Stadt gnädig! Dir zu Ehren hab ich diese Statue erschaffen lassen, damit die Menschen in Per-Bastet sich an Deine Größe erinnern und wieder Demut erlernen. Ich weiß, dass Du zahllose Ungläubige in einem einzigen Blutrausch vernichten kannst - jetzt aber kommt es auf Deine Weisheit an. Gib mir die Kraft, ich bitte Dich, den drohenden Feuern Einhalt zu gebieten! Lass mich Verbündete gewinnen, die dieses Unrecht verhindern!«
Er küsste ihre Füße.
»Und verzeih Deinem unwürdigen Diener! Man nennt mich den Ersten Sehenden, doch meine Augen waren blind. Leih mir die Stärke Deines Feuerblicks, ich bitte Dich von ganzem Herzen!«
Irgendwann erhob er sich.
Drei quälende Tage waren verstrichen, bis Aryandes ihm endlich eine Audienz gewährt hatte. Drei Tage und Nächte, in denen Minas Enthüllungen sich wie ein Feuerbrand in seinen Körper gefressen hatten.
Wie viel Zeit blieb ihm noch? Das Große Fest rückte unbarmherzig näher. Würden die Frevler es wagen, es für ihre Zwecke zu missbrauchen?
Senmut trug einen neuen weißen Schurz; sein Haupt war frisch geschoren. Nicht einmal auf das Bad im Tempelsee hatte er verzichtet. Sein Kopf war klar und kühl. Er fühlte sich gerüstet, dem Satrapen gegenüberzutreten.
Aryandes räkelte sich auf seinem neuen Stuhl, eher einem Thron, wollte man näher an der Wahrheit bleiben, kunstvoll gestaltet mit geschnitzten Lotosblüten als Armlehnen, bemalt mit dunkelblauer Farbe und reichlich mit Gold belegt. Er schien allerbester Laune, lächelte, wirkte aufgeräumt und tatendurstig.
»Jetzt haben wir es beinahe geschafft«, sagte er statt einer formellen Begrüßung. »Die Flut wird kommen. Hast du schon davon gehört, dass die Ibisse zurückgekehrt sind? Man sagt, noch nie zuvor seien sie so zahlreich gewesen wie dieses Jahr. Ein gutes Omen, nicht wahr?« Sein Lächeln wurde breiter. Selbst diesen Umstand schien er zu seinen Gunsten auszulegen.
Senmut zögerte noch immer. Vorsorglich hatte er die Papyri draußen gelassen, in der Obhut des jungen Priesterschülers, der, wie er wusste, eher sein Leben geben würde, als sie sich entreißen zu lassen, obwohl er keine Ahnung hatte, was er da in Händen hielt.
»Weshalb wolltest du uns sprechen?«, fragte Aryandes.
»Es gibt Missstände im Tempel, Herr«, sagte Senmut und entschied sich aus taktischen Gründen, ihm heute die Anrede zu gewähren, die der eitle Perser für sich in Anspruch nahm. »Gefälschte Steuerlisten. Beträchtliche Summen wurden offenbar listig hinterzogen, um sie
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