Auge des Mondes
…«
»Hat das nicht Zeit bis nach dem Fest?« Aryandes’ Unterlippe schob sich nach vorn. »Jetzt gibt es doch wahrlich Wichtigeres zu tun! Ist das Gold für die Straßen bereit? Und der Tempel festlich genug geschmückt? Und dann die Frage, welche Kleidung wir anlegen sollen. Darüber wurde noch gar nicht gesprochen.«
»Die Zeit eilt, Herr. Denn die, die das verbrochen haben, weilen mitten unter uns - und planen noch weitaus Schrecklicheres.«
»Was genau willst du von uns?« Unwillen troff aus jedem seiner Worte.
»Dich bitten, Herr, Menna und Chonsu zu entlassen. Sie dürfen nicht länger als Zweiter und Dritter Sehender der Gottheit dienen!«
»Wer sagt das? Du?«
Der Satrap schien sich mehr und mehr zu langweilen. Der kleine Nubier, wie immer keine Armlänge von ihm entfernt, bemerkte es augenblicklich. Er griff nach dem Tablett, auf dem Getränke und kandierte Früchte standen, doch Aryandes deutete ein Kopfschütteln an.
»Das Fell!«, befahl er stattdessen. »Das Fell!«
Vor Senmuts Augen verschwammen die Konturen.
Aryandes strich zärtlich über das alabasterweiße Fell, dann begann seine linke Braue leicht zu zucken. Ein Zeichen offenbar, das sofort verstanden wurde. Der kleine Nubier ließ sich zu seinen Füßen nieder. Als der Satrap ihm das Fell auf die nackte Schulter legte, wirkte seine Haut neben dem blendenden Weiß noch dunkler als bisher.
Senmut wich zurück.
Aryandes missdeutete diese jähe Bewegung als andächtiges Staunen.
»Vollkommen, nicht wahr?«, sagte er. »Wahrhaft vollkommen! Einer unserer besten Händler, ein Landsmann namens Numi, hat es soeben für uns abliefern lassen. Wir wussten, wir können uns auf ihn verlassen.« Er lächelte breit, in Gedanken offenbar bereits ganz bei den fleischlichen Freuden, die es ihm alsbald bescheren würde. »Also«, fuhr er fort, »du verlangst also, dass wir diese beiden Sehenden entlassen …«
Senmut war aschfahl geworden. Dieser Mann würde ihm kein einziges Wort glauben, Beweise hin oder her. Und wenn doch, dann fände er womöglich noch perverses Vergnügen an der Vorstellung, wie die Geschöpfe der Bastet den Tod finden sollten.
»Ihr habt natürlich recht«, brachte er schließlich unter größter Anstrengung hervor. »All das kann warten - muss sogar warten, bis das Große Fest …«
»Allmählich scheinst du Verstand anzunehmen«, sagte Aryandes. »Das gefällt uns! Denn wir haben noch einiges zu klären, bevor die Feierlichkeiten beginnen. Zum Beispiel die Frage …«
Senmut hörte nicht mehr, was der Satrap noch sagte. In seinem Kopf war er längst dabei, auf eigene Faust zu handeln.
Ameni saß an ihrem Bett, als sie wach wurde, sah sie voller Besorgnis an. An ihn gelehnt stand Asha mit verweinten Augen.
»Was ist los?« Mina fuhr hoch. »Was tut ihr hier mitten in der Nacht in meinem Zimmer - alle beide?«
»Sie haben ihn …« Das Mädchen begann zu weinen. »Vorhin haben sie ihn gewaltsam aus dem Haus geschleppt. In Stricken abgeführt wie einen gemeinen Verbrecher!«
»Numi?«, stieß Mina hervor.
Ameni nickte.
»Senmuts Leute«, sagte er. »Ein ganz großes Aufgebot. Jede Gegenwehr wäre sinnlos gewesen.«
»Wohin haben sie ihn gebracht?«, fragte Mina. »In den Tempel?«
»Vermutlich.« Ameni hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Was werden sie dort mit ihm machen?«
Minas Hand glitt unwillkürlich an die Brust, bis sie die Perle ertastete. Ihre Glätte zu spüren hatte etwas Tröstliches. Numi!, dachte sie und war sich ihrer Gefühle für ihn auf einmal wieder ganz sicher. Ich will dich nicht verlieren - niemals!
»Hat er denn das Katzenfell …« Mina zögerte, dann setzte sie neu an: »Senmuts weiße Katze ist spurlos verschwunden. Könnte Numi etwas damit zu tun haben?«
»Er hat Nein gesagt.« Asha begann zu weinen. »Obwohl sie ihm natürlich kein Wort geglaubt haben. Aber ich weiß, dass mein Vater nicht lügt. Was werden sie ihm antun, Mina? Werden sie ihn töten? Du musst ihm helfen - uns helfen!«
»Ich werde mit Senmut sprechen«, sagte Mina. »Sobald es Tag geworden ist, gehe ich zu ihm. Dann werden wir mehr erfahren.«
»Und wie sollen wir diese endlose Nacht überstehen?«, fragte Ameni.
»Gemeinsam. Ihr bleibt beide hier. Bei mir«, sagte Mina. »Gemeinsam ist es leichter.«
zehn
Als das erste Morgenlicht kam, lagen die beiden wie erschöpfte Kinder schlafend in dem provisorischen Nest aus Decken und Kissen, das Mina ihnen in aller Eile auf dem Boden bereitet hatte. Ashas
Weitere Kostenlose Bücher