Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Passionsfeiertagen, kam Amir nachts sogar mehrmals zu uns ans Haus. Zehn Tage dauern im heiligen Monat Muharram die Trauerriten für Imam Hussain, den Enkel des Propheten Mohammed. An Aschura, dem zehnten Tag, erreichen die Feiern ihren Höhepunkt. Wenn sich die Leute auf ihre Trauer konzentrierten, wenn sie sich zur Buße selbst bis aufs Blut geißelten und die Schuld auf sich luden, weil ihre Vorfahren, Schiiten wie sie, dem Imam im Jahr 680 in der Schlacht bei Kerbala gegen den Sunnitenkalifen Yazid nicht beigestanden hatten, und wenn sie bei Passionsspielen bis tief in die Nacht hinein weinten, hatten nur wenige Passanten Augen für einen jungen Mann, der scheinbar ziellos vor einem Haus herumlungerte …
Wir konnten einander kaum erkennen, unterhielten uns flüsternd im Schutz der Dunkelheit über Gott und die Welt, stundenlang, bis Amir sich stets schweren Herzens hundemüde auf den Heimweg machte – manchmal erst morgens um fünf. »Schreib«, schärfte er mir dann jedes Mal ein »damit ich auch tagsüber etwas von dir habe!« Ja, Briefe waren eine praktische Lösung, denn sie gaben uns auch die Möglichkeit, Dinge anzusprechen, die wir nicht auszusprechen wagten. Amirs Schwester ging auf dieselbe Schule wie ich und übernahm die Rolle des Kuriers. Doch es dauerte nicht lange, da ließ Amirs Vater mir ausrichten, dass er mir jeden Kontakt zu Amir endgültig verbiete. Amirs Leistungen in der Schule hatten so stark nachgelassen, dass der Vater die Zukunft seines begabten Sohnes ernsthaft gefährdet sah.
»Willst du unsere Zukunft aufs Spiel setzen?«, fragte ich ihn bei der nächsten Gelegenheit. »Was wird aus unseren kostbaren Plänen: Schulabschluss, Studium, eine Arbeit finden, eine Familie gründen … Bedeutet dir das alles schon jetzt gar nichts mehr, Amir?«
Mit seiner Antwort jagte er mir einen gehörigen Schrecken ein und machte mich zugleich unendlich traurig: »Ameneh, ich will nur dich und sonst nichts und niemanden. Lass uns heiraten, lieber heute als morgen.« Lachend fügte er hinzu: »Dann kann ich dich endlich einschließen, und niemand nimmt dich mir weg.«
Wenn diese Bemerkung scherzhaft gemeint war, verstand ich sie wohl schlecht. Sollte der kleine Vogel, eben erst flügge geworden, seine Freiheit nicht genießen dürfen? Sollte er schon morgen im Käfig enden? Eine düstere Ahnung, die ich nicht richtig einzuordnen wusste, erfasste mich in jenen Tagen. Ich, ein junges Mädchen – fast noch ein Kind –, spürte, dass mein Leben in eine merkwürdige Richtung gedrängt werden könnte.
Den nächsten Schrecken jagte mir Schirin ein, als sie mir eines Nachmittags atemlos eröffnete: »Sie haben Amir geschnappt. Mama ist gerade auf dem Polizeirevier!« Ich war entsetzt. Mein Gott, dachte ich, jetzt machen sie uns doch noch die Hölle heiß. Was tun? Schirin drängte mich, schleunigst alles zu verbrennen, was auf Amir hinweisen könnte. Fotos, fünfzehn schöne Porträts von ihm, Briefe, endlose Zeugnisse seiner ernsthaften Zukunftspläne – Geschenke, kleine Zeichen seiner unbeirrbaren Zuneigung. Ich hörte auf meine Schwester, noch widerwilliger als sonst, bei all den Kostbarkeiten, die ich jetzt opfern musste. Doch diesmal blieb mir ja wirklich nichts anderes übrig. Ich warf die Geschenke weg, verbrannte Fotos und Briefe und wartete nervös darauf, dass Mama heimkäme.
»Salam, Mama …«
»Salam, Ameneh, mein Schatz! Na, wie war dein Tag?«
»Gut, nichts Besonderes. Und bei dir?«
»Ach, auch das Übliche. Ein Sack Flöhe lässt sich leichter hüten als die kleinen Kindergartenteufel.«
Meine Mutter verhielt sich so wie sonst auch. Ihre Stimme verriet nicht die leiseste Spur von Ärger oder Anspannung. Hieß das etwa Fehlalarm? Kam sie gar nicht vom Revier? Saß Amir gar nicht im Gefängnis? Ein düsterer Verdacht kam in mir auf. Oh, Schirin, du Unausstehliche, wenn du mich belogen hast …! Und es sollte sich bestätigen. Meine Schwester hatte mich betrogen. Und mit dieser Lüge maßlos verletzt.
In der Schule hieß es unterdessen: »Macht euch Gedanken über euer künftiges Studienfach.« Naturwissenschaftliche Fächer lagen mir mehr als Sprachen oder Literatur. Eine Lehrerin gab mir den Rat, ich solle entweder Grafikdesign, Elektronik oder Elektrotechnik in die engere Wahl nehmen – Studiengänge mit guten Berufsaussichten.
»Das klingt doch, als wär’s genau richtig für mich«, berichtete ich Amir gleich schwärmerisch, als wir das nächste Mal miteinander
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