Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
größer war als seine Abteilung.
Obwohl View seit fast einer Woche verschwunden war, herrschte hier wie immer am meisten Betriebsamkeit. Auf das Sehen verließen sich schließlich die Menschen. Das, was man sah, das glaubte man. Etwas, das man mit den eigenen Augen gesehen hatte, musste wahr sein.
Aus dem Grund hatte er mit View sein Projekt begonnen. Max verkniff sich das Grinsen und ließ die Tür zu Views Zimmer aufgleiten. Er blieb stehen und entfernte den Schal. »Geh durch das Zimmer und sag mir, was du wahrnimmst.« Er gab Smell einen leichten Schubs und ließ die Tür hinter ihm zugleiten. Durch die Freisprechanlage konnte er jedes Wort hören, durch das Fensterchen alles sehen.
Smell rieb sich das Gesicht und ging erst mit desinteressierter und wütender Miene durch das Zimmer, doch mit jedem weiteren Schritt erhellte sich sein Ausdruck. Auch Max lächelte. Gleich würde er erfahren, wer View zum Ausbruch animiert und ihr bei der Flucht geholfen hatte. Er glaubte nicht daran, dass sie ohne fremde Hilfe aus dem Labor entkommen war und es allein bis Vancouver geschafft hatte. Die Computer hatten nichts aufzeichnen können, da View ihr Armband nicht getragen hatte. Und Braxton Pearson war es eindeutig nicht gewesen. Views Psychologen hatte er zuerst verdächtigt, doch laut den Aufzeichnungen hatte Braxton es nicht gewagt, View zu irgendetwas anzustacheln. Im Gegenteil, er hatte sie besser als jeder andere Psychologe seiner anderen vier Kinder im Griff. Braxton sorgte sich um seinen sensiblen Schützling. View hörte auf ihn, ach, sie liebte und vergötterte ihren Piri – wie sie ihn nannte. Dabei dachte View noch einfältig, dass Piri ein Computer war.
Das System hätte auch hier sofort Alarm geschlagen, wenn Braxton irgendeines der ihm unbekannten Schlüsselwörter verwendet hätte. Hatte er aber nicht. Weder lange vor noch kurz vor ihrem Ausbruch. Aus welchem Impuls heraus war sie bloß geflohen?
Max seufzte. Irgendwie hatte er die schüchterne und naive View unbeabsichtigt in sein Herz geschlossen. Nun ja. Sie machte ihn schließlich zum mächtigsten, reichsten und begehrtesten Menschen auf der ganzen Welt. Dafür konnte man jemanden schon gern haben. »Was riechst du?«, fragte er scharf.
Smell zuckte zusammen. Sichtlich angetan von den neuen Düften, die ihm wahrlich bunte und zudem gänzlich andere Bilder vor sein inneres Auge zeichneten. Er schluckte.
»Rede!«
»Ich … ähm. Also, hier lebt eine junge Frau. Sie war aber schon länger nicht hier.«
»Wie lange genau?«
Er schwieg.
»Smell«, drohte er leise. Er wusste genau, dass Smell es viel exakter sagen konnte.
»Einhunderteinundfünfzig Stunden.«
Es war gerade neun Uhr. Max rechnete. Sechs volle Tage waren einhundertvierundvierzig Stunden. Also war sie gegen zwei Uhr nachts geflüchtet. Nur, wie? Und warum auf einmal? »Kennst du ihren Duft? Ist er dir schon einmal begegnet?«
»Nein.«
»Kannst du ihrem Geruch folgen?«
»Nach einer Woche?«
Ja, das war wirklich etwas viel verlangt. Max seufzte.
»Klar.«
Er stutzte. »Aber nur in geschlossenen Räumen«, sagte Max und bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Das würde wohl nicht viel helf…
»Hm, ich denke auch draußen.«
Max rieb sich über die Halbglatze. Nicht nach seinem Kenntnisstand. War der Junge zu viel mehr fähig, als er bisher vermutet hatte? War das möglich? Oder aber … »Vergiss es! Ich lass dich bestimmt nicht raus.«
»Dann eben nicht!« Mit erhobenem Haupt drehte sich Smell demonstrativ von der Tür weg und betastete Views Bücher, den Kuschelsessel und den Schreibtisch.
Es war unmöglich, nach einer Woche da draußen in der Wildnis noch einer Duftspur zu folgen. Oder doch nicht? Nein, das konnte er nicht riskieren. Der Junge war ebenfalls zu wichtig. Es hatte ihn Jahre und Unsummen gekostet, ihn und die anderen vier zu finden und ohne Spuren verschwinden zu lassen. Ganz zu schweigen von dem geheimen Bau des Labors. Er grinste. Aber was waren schon Millionen? Er war Realist, kein Spinner. Kein abgehobener Irrer, der einer Wahnvorstellung hinterherjagte. Er wusste genau, was er tat. »Nun, Smell, sag mir, wer sich noch in dem Raum aufgehalten hat.«
Der Junge sah auf, direkt zur Tür. Sein längeres Haar trocknete, das Blondbraun wirkte wieder heller. Sein Blick eine Mischung aus Frage und Misstrauen. Der Brustkorb hob und senkte sich. Er nahm jeden noch so dezenten Geruch auf. Gleich, gleich würde Max es wis…
»Niemand.«
»Was?
Weitere Kostenlose Bücher