Augen für den Fuchs
Sinn mehr. Der Krebs hatte gesiegt. Wir mussten es akzeptieren, eine Wahl hatten wir nicht. Endlich ist es vorbei.«
Das war Kohlund in seiner langjährigen Dienstzeit noch nie vorgekommen: Die Hinterbliebenen waren froh, dass der Tod endlich eingetreten war. Vielleicht waren sie damit einverstanden, dass jemand nachgeholfen hatte. Dabei war das Opfer weder ein Ekel noch ein Schläger, er war auch kein Perverser gewesen. Was Kohlund bislang über Frank Stuchlik wusste, gab keinen Anlass, solche Mordmotive in Betracht zu ziehen. Ehestreit oder Differenzen mit den Kindern waren nicht offensichtlich, die Familie belastete nur die schwere Erkrankung des Vaters. Aber die Mordkommission stand erst am Beginn ihrer Ermittlungen. Einen Grund musste es geben, warum Frank Stuchlik umgebracht worden war. Über seinen Tod waren alle Betroffenen erleichtert, als sei ihnen eine Last von den Schultern genommen. Aktive Sterbehilfe kam in Betracht, aber nachts um eins auf einer geschlossenen Station? Bettine Stuchlik traute Kohlund die Tat nicht zu. Sie hatte ihm soeben gesagt, was sie in der Todesnacht getan hatte: Breichen gekocht. Dass die Kinder den Vater ermordet haben könnten, war völlig absurd, ausgeschlossen. Er musste die weiteren Mitglieder der Familie befragen.
»Wissen die Eltern Ihres Mannes von seinem Tod? Leben sie noch?«
»Ja. Sie kommen heute aus Wolgast.« Bettine Stuchlik blickte zur Uhr. »Müssten bald da sein. Sonntagvormittag sind die Autobahnen noch frei.«
Die Eltern reisten von der Küste an. Auch ihre Beteiligung am Verbrechen konnte sich Kohlund nicht vorstellen. Blieben die Freunde, Kollegen, die Ärzte und Schwestern. Vielleicht war es ein Komplott.
»Wann kann ich die Beerdigung organisieren?«
Bettine Stuchliks Kälte überraschte Kohlund nicht wirklich, er hatte oft erlebt, dass Hinterbliebene rein geschäftsmäßig reagierten. Ihr Leben geht weiter.
»Ein paar Tage wird’s dauern. Ihr Mann muss obduziert werden.«
»Grüßen Sie mir den Krebs!« Sie verkrampfte sich kurz, als hätte sie ein stechender Schmerz überfallen, und Tränen liefen ihr über die Wangen, tropften auf das Hemdchen des Kleinen. Die beiden Größeren schauten Kohlund vorwurfsvoll an, als trage er die Schuld an den Tränen. Er hielt ihrer gnadenlosen Musterung und dem stillen Vorwurf nicht stand, entschuldigte sich und wusste nicht, wofür.
Am Fenster des Flures troff der Regen noch immer in Bächen hinunter. Tränen, überall Tränen, mein Gott. Kohlund erkannte Kriminaldirektor Miersch auf dem Parkplatz. Ein Arzt begleitete ihn zu seinem Auto. Miersch war also doch vor Ort, wollte wohl ihn und die Arbeit der Mord zwo kontrollieren. Der Arsch hatte wahrscheinlich hinter seinem Rücken mit den Ärzten und Schwestern gesprochen. Jetzt fuhr der Chef wieder nach Hause. Vielleicht war dieser ganze Fall eine Finte. Ein Mord, der keiner war. Ein natürlicher Tod, mit falschen Indizien. Aber der Bluterguss am Hals wies eindeutig auf einen gewaltsamen und vorsätzlichen Tod hin. Kohlund fühlte sich hintergangen. Hier sagte keiner die Wahrheit. Keiner. Und die Tropfen prasselten gegen das Fenster. Im Schwesternzimmer hörte Kohlund Bettine Stuchlik laut schreien.
7
»Wir behalten ihn hier!«
Die dunkle Stimme war es gewohnt, Befehle zu geben. Er hörte Schritte. Dann wurde ein Rollo heraufgezogen, das Fenster geöffnet. Es wurde kalt. Ein Wasserhahn lief, jemand wusch sich die Hände.
»Machen Sie ein Bett fertig.«
Die Stimme schwebte bedrohlich nah über ihm. Er glaubte, einen Atem zu spüren. Aber vielleicht war es auch nur ein Lufthauch vom Fenster. Er wusste nicht, wer sprach und ob mit ihm, doch andere Menschen mussten noch im Zimmer sein. Die Stimme erinnerte ihn an jemanden, er hatte sie schon einmal gehört. Margo konnte im gleichen autoritären Tonfall sprechen, hatte jedoch eine weit höhere Stimmlage. Sie war es nicht, und er lag nicht zu Hause. Und so nah war Margo seinem Gesicht seit Jahren nicht mehr gekommen. Dann erneut der Befehlston. Eine Hand klatschte ihn sanft auf die Wangen. Links, rechts, links. Es war ihm nicht unangenehm.
»Hallo! Hallo, Herr Miersch, hören Sie mich?« Jetzt sprach eine Frau. Ihre Stimme hatte ein angenehmes Timbre. Wie die Moderatorin vom Fernsehen. Wie hieß die bloß? Er sah sie vor sich, sah sie lächeln. Guten Abend, meine Damen und Herren. Und diese Frau schlug ihm jetzt ins Gesicht? Miersch war überrascht und genoss die Illusion, ohne seine Augen zu öffnen.
Dann gab
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