Augenblick der Ewigkeit - Roman
zwangsläufig folgt, wenn Wolkenblitze sich entladen. Vertikale Scherwinde katapultierten den Airbus zurück in seine ursprüngliche Reisehöhe. Wie ein Raumfahrer beim Start wurde er in seinen Sitz gedrückt. Er hustete und spuckte, schloß die Augen und wartete auf den endgültigen Knockout. Doch nichts geschah. Statt dessen hörte er eine sanfte Stimme. » Keine Panik, Mr. Steinberg. Erst wenn die Zeit gekommen ist, heißt es Abschied nehmen!«
Mit einem gequälten Lächeln blickt er zu der jungen Frau auf, die mit gezücktem Bleistift und einem Stenoblock vor ihm stand und sich an der Gepäckablage festhielt. Die Anschnallzeichen gingen aus, und der Airbus segelte wieder weich und friedlich auf stabilen Luftpolstern, als wäre nichts geschehen.
» Es ist sicherlich kein Zufall, daß wir in derselben Maschine sitzen. Ich habe Sie schon vorhin beim Einchecken entdeckt und nehme an, Sie sind wie ich auf dem Weg nach Nizza zu unserem Geburtstagskind. Darf ich mich für ein paar Minuten zu Ihnen setzen?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie auf dem leeren Flugzeugsessel jenseits des Kabinengangs Platz, schlug die Beine übereinander und klappte wie eine zum Diktat herbeizitierte Sekretärin ihren Stenogrammblock auf. » Mein Name ist Jacqueline Ascher. Ich bin Dozentin für Musikgeschichte an der Cambridge Faculty of Music…«
Er putzte sich die Nase. » Ascher, sagten Sie?«
Der Namen Ascher, so wienerisch, wie sie ihn ausgesprochen hatte, kam ihm bekannt vor. Der Whiskeynebel in seinem Kopf war wie weggeblasen. » Sind Sie verwandt mit Leo Ascher, dem Wiener Operettenkomponisten?«
Die Frau wartete, bis Steinberg sich aus seinem Sessel hochgekämpft und die Krawatte zurechtgezogen hatte. Dann nickte sie. » Leo Ascher war mein Großvater. Meine Familie mußte achtunddreißig aus Österreich emigrieren.«
» So was! Dann habe ich vor kurzem die Autobiographie Ihrer Mutter gelesen, › Bilderbuch aus der Fremde‹. Ich kannte Franzi Ascher noch aus meiner Wiener Zeit. Sie war wie Sie Musikhistorikerin, die hin und wieder auch Kritiken schrieb. Mich hatte sie damals immer gut behandelt. Was kann ich also Gutes für Sie tun, Mrs. Ascher?«
» Miss, ich bin nicht verheiratet. Sagen Sie doch einfach Jacky zu mir.«
Sie war eine schlanke, sehnige Frau von Mitte dreißig, die ebenso gut auch seine Tochter hätte sein können, wenn er und Franziska Kinder gehabt hätten. Herrgott, wie schnell die Zeit vergangen war! Dozentin für Musikgeschichte? Na, Servus. Die Professorin sah nicht gerade wie ein akademischer Blaustrumpf aus in ihrer durchsichtigen Bluse über dem olivfarbenen Baumwoll-T-Shirt und den verwaschenen Jeans. Mit der buschigen Fülle ihrer schwarzen Haare unter einer Baskenmütze und der Art, wie ihre sonnenverbrannten Oberarme aus den hochgekrempelten Ärmeln herausschauten, wirkte sie auf ihn eher wie eine Umweltaktivistin.
» Ladys and Gentlemen, please fasten seatbelts.«
Was er schon befürchtet hatte, die Rüttelei fing wieder an. » Sie sollten sich besser anschnallen, Jacky. Die Achterbahn ist noch nicht zu Ende.«
Sie lehnte sich zurück und schloß den Sitzgurt. Der Airbus rollte über seine Längsachse, um einigen gigantischen Wolkentürmen auszuweichen. Bei der deutlichen Verminderung des Triebwerkschubs spürte Steinberg einen Brechreiz in der Magengrube. Er griff nach der Spucktüte, lehnte sich zurück und blickte sie mit einem entschuldigenden Lächeln an, das zum ängstlichen Grinsen eines kleinen Jungen gefror, der etwas ausgefressen hat.
» Sorry, Jacky, aber ich bin kein Vogel, oder sind mir Flügel gewachsen? Flying makes me sick!«
Jacky hingegen machte die Schaukelei nichts aus. » Then clench your teeth, screw up your bum cheeks and stay cool at crash landing! Lernt man schon im Kino!«
Sie setzte sich auf den freien Sessel neben ihm. » Geben Sie mir Ihre Hand, und dann reden wir. Reden lenkt ab, die beste Medizin gegen Flugangst…«
Folgsam wie ein Hund legte er ihr seine Pfote in die Hand.
» …unsere Reise dauert noch eine kleine Weile. Ich werde Ihnen solange einfach ein paar Fragen stellen!«
Steinberg nickte dankbar und drückte ihre Hand. » Und ich werde versuchen, Ihre Fragen zu beantworten, aber nur, solange Sie meine Hand festhalten.«
Ihr Gegendruck war ein Versprechen. » Ich arbeite in Cambridge an einem Seminar über die nationalsozialistische Vergangenheit von Musikern im Dritten Reich. Sie kennen doch die › God-blessed-list‹.«
» Die
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