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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Wärme, einem Dach über dem Kopf, einen vollen Magen, nach Liebe und Vergebung, nach Oratorien von Händel und Kantaten von Bach. Mit den Aufnahmebedingungen, die Lassally ihm in Kingsway Hall bot, konnte er sein Klangideal in höchster Perfektion verwirklichen: einen bei absoluter Präzision des Rhythmus schlanken, geschmeidigen, ansatzlosen Klang, der nicht mehr das Ergebnis und die Summe von Instrumenten, Chor- und Solostimmen war, die ihn erzeugten, sondern durch die vielen Mikrofone entstand, die ihn im ganzen Raum verteilt aufgenommen hatten. Alle Töne kamen klar artikuliert, nichts schwamm, alles war gebunden und geformt. Mit der Positionierung der Mikrofone durch und über alle Instrumentengruppen des Orchesters hinweg erzielte er eine zusätzliche Transparenz, die der Vielstimmigkeit genügend Raum zum Klingen gab, wie das in einem realen Konzertsaal nie möglich gewesen wäre.
    In der Tat besaß der Saal durch sein großes Raumvolumen und seine schallbrechenden vergipsten Wände, die mit Pilastern und Stukkaturen zur optimalen Streuung des Klangs beitrugen, eine hervorragende Akustik. Besonders beim Verklingen der Töne hatte er eine charakteristische tonfärbende Eigenschaft, weil in den unterschiedlichen Frequenzen verschiedene Nachhallzeiten wirken konnten. Herzog hatte sie von den Tontechnikern vermessen lassen: Sie betrugen zwei Sekunden in den Bässen, die sich bei den höheren Lagen auf 1,2 bis 1,3 Sekunden minderten, was dem Raum eine besondere Brillanz verlieh. Singstimmen in den höheren Registern erfuhren hier sogar eine Erweiterung ihres Stimmumfangs nach oben, was speziell den Frauenstimmen im Chor und Gudruns Stimmlage entgegenkam.
    Gudrun war froh, daß Karl sie mit nach London genommen hatte. Als sie merkte, daß sie wieder schwanger war, weinte sie bittere Tränen. In Zeiten wie diesen, in denen Elend herrschte, wollte sie kein Kind zur Welt bringen. Schon gar nicht in einem verwüsteten Land, das ihr so fremd geworden war, daß sie sich vor seinen Trümmern fürchtete, vor den steinernen weniger als vor den menschlichen. Als sie in London eintraf und die feindliche Stimmung der Engländer zu spüren bekam– obwohl doch alle sich bemühten, zu ihr höflich und korrekt zu sein–, steigerte sich ihre Niedergeschlagenheit zur Selbstverleugnung, und sie bemühte sich, ein so perfektes Englisch zu sprechen, daß man sie nicht gleich als Deutsche erkennen konnte. Wenn einer fragte, gab sie sich als Schwedin aus.
    Sie war Lassally dankbar, daß er sie trotz ihrer Depressionen als Sopranstimme für die Matthäuspassion engagiert hatte. Die erschütternde Passionsmusik und der vom tiefen christlichen Glauben geprägte biblische Bericht von der Leidensgeschichte Christi gab ihr ihren Glauben und ihre Zuversicht zurück und füllte endlich wieder jenes Vakuum, das ihre Welt in tiefe Hoffnungslosigkeit und Melancholie gestürzt hatte.
    Ihre Arien » Ich will dir mein Herze schenken, senke dich mein Heil hinein…« und » Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts…« sang sie mit innigstem Herzen und aus tiefer Dankbarkeit, daß Gott mit ihr ein Einsehen gehabt und keine Sintflut geschickt hatte. Die Töne strömten aus ihr so eindringlich und tief gefühlt, daß Lassally in Tränen ausgebrochen war und ihr das Angebot machte, als nächstes die Kindertotenlieder von Mahler mit ihr aufzunehmen. Sie merkte, wie ihre depressiven Stimmungen verflogen, seitdem sie wieder arbeitete, und daß sie um so lebendiger wurde, je mehr Zuspruch sie erfuhr.
    Sie war müde, freute sich auf ein warmes Bad und auf ihr Bett. Wie schon die Tage zuvor, ignorierte sie das Ziehen in der Lendengegend. Sie wagte nicht, die beiden Männer damit zu behelligen, die wie kleine Buben an ihrem Mischpult spielten, mitden Nasen in den Noten und nervösen Fingern an den Reglern.
    » Da hörst du es…«, Herzog stoppte die Bandmaschine, fuhr das Tape zurück und startete es aufs neue. Sie freuten sich über jeden Fehler, den sie entdecken und mit ihrer Technik korrigieren konnten. Jedes Klappern, Atmen und Bogengeräusch, das zwangsläufig beim Erzeugen eines Tons entstand, wurde gelöscht oder wegpoliert, bis nichts mehr davon zu hören war. Erst wenn es klang, » daß der Bogen bereits in Bewegung ist und die Saite berührt, die schon vibriert«, wie Lassally es formulierte, waren sie mit dem » ansatzlosen, schönen Klang« zufrieden, jenem spezifischen Sound, den beide gleichermaßen anstrebten.
    »

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