Augenblick der Ewigkeit - Roman
…da ist es schon wieder!« An einer leisen Stelle war ein kaum hörbares Poltern zu vernehmen.
Lassally winkte ab. » Daran wirst du dich gewöhnen, Charly. Das ist die Piccadilly Line von Holborn Station nach Aldrych, die unter dem Gebäude verläuft. Ihr Poltern ist auf fast allen Aufnahmen zu hören, die in Kingsway Hall je gemacht worden sind, sozusagen ihr tönendes Wasserzeichen. Sorry, ich habe es dir verschweigen wollen, weil dieser Raum die beste Akustik bietet, die in London zu bekommen ist…«
» Trotzdem, wir müssen die Aufnahme wiederholen!«
» Das bedeutet Überstunden. Und du weißt, Nachtsitzungen kosten richtig Geld!«
» Willst du also, daß diese U-Bahn bis in alle Ewigkeit durch unsere Matthäuspassion rattern soll?« Karl sprang auf. » Du warst es, der gesagt hat, wir wollen künftigen Generationen Aufnahmen hinterlassen, an denen öffentliche Konzerte und Künstler gemessen werden müssen!«
Er wollte wieder in die Halle, doch Lassally gelang es, ihn zurückzuhalten. » Also gut. Laß mich das machen. Ich gehe raus und rede mit ihnen.« Denn mit seiner Energie und Vitalität, seinem Streben nach unbedingter Perfektion brachte Karl es immer wieder fertig, alle gegen sich aufzubringen.
» Wie lange brauchst du denn noch?«
Gudrun setzte sich auf Lassallys leeren Platz. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten. » Kannst du nicht endlich Schluß machen? Seit zehn Stunden arbeitet ihr jetzt ohne Unterbrechung.«
» Ich kann keine Rücksicht darauf nehmen. Weder auf mich noch auf irgendwen sonst.«
Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter und ließ sie dort.«Karl, mein Lieber, wann hast du je auf andere Rücksicht genommen, wenn es um deine Arbeit ging? Wir müssen darüber reden. Wir können doch nicht im Ernst mit unserem Leben so weitermachen!«
» Bitte, fang nicht wieder davon an…« Sie mußte an das Ungeborene denken, und eine merkwürdige Angst bemächtigte sich ihrer. »…mit deiner Perfektion bringst du uns alle noch zum Heulen!«
» Heulen?«
» Die einen heulen aus Wut, die anderen aus Verzweiflung und der Rest aus nervöser Erschöpfung.«
» Und du? Warum heulst du…«
» Weil…«, Gudrun klammerte sich an ihn. Ihre Augen wurden groß, und ihr Atem ging stoßweise, » …ich glaube, es ist soweit.«
Durch die Spanngardinen, deren Grau mit Schmutz nichts zu tun hatte– sie waren gerade frisch gewaschen worden und rochen noch nach Dettol–, sah Lassally hinunter auf die gegenüberliegende Straßenseite der Ormond Street mit ihren niedrigen Backsteinhäusern und weißen Schaufenster- und Türrahmen. Die Straße war leer an diesem frühen Sonntagmorgen. Nur ein dröhnender Wassertanklaster, der die gesamte Straßenbreite einnahm, sprengte das Kopfsteinpflaster. Die Häuser lagen unter einem trübseligen Himmel, der so neutral und grau war wie alles in diesem Krankenhaus, eine Trübseligkeit, die ihm vorkam wie zwei belanglose Noten in einem Takt wehmütiger Musik.
Lassally schaute ungeduldig auf seine Uhr. Er hatte die ganze Nacht auf der Entbindungsstation verbracht, ohne ein Auge zuzutun. Karl hatte ihn mit einem » Ich komme gleich nach« gebeten, Gudrun ins Krankenhaus zu begleiten, und jetzt, nachdem alles so gut wie vorüber war, war er immer noch nicht aufgetaucht.
Gemeinsam hatten sie Gudrun auf einem Stuhl die Treppe hinuntergetragen, die vom Hochparterre der Methodistenkirche auf die Kingsway Road führte, wo bereits das Taxi wartete. Der Taxifahrer öffnete die Tür zum Fond. Gudrun klammerte sich an Karl. » Komm mit…«
» …sowie ich fertig bin!«
» Laß mich jetzt nicht allein…«
» Victor ist doch bei dir.«
» Von Beruf Hebamme…«, Lassally schloß die Taxitür und stieg auf der anderen Seite ein, » …nicht nur der Musik.«
Er klopfte an die Trennscheibe zur Fahrerkabine. » Fahren Sie, was der Wagen hergibt, aber fahren Sie so vorsichtig wie möglich.«
Der Taxifahrer öffnete das Schiebefensterchen zum Fahrgastraum. » Sicher doch, Mister, wenn mein alter Wagen mir nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Sie müssen mir nur noch sagen, wohin?«
» Egal, wohin. Sie sehen doch, sie kriegt ein Kind!«
» Okay, das nächste Krankenhaus liegt nur ein paar Blocks entfernt. Halten Sie durch, young Lady, ich bringe sie ins Great Ormond Street Hospital…« Aus Angst, sie könne in seinem Taxi niederkommen, fuhr der Taxifahrer wie der Teufel durch das abendliche London. Er bog in eine Seitenstraße mit niedrigen
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