Augenblick der Ewigkeit - Roman
Eintrittskarten vergriffen. Selbst für sie wäre es beinahe unmöglich gewesen, noch ein Billett für das Konzert aufzutreiben. Nur durch ihre Freundschaft mit dem Manager der Carnegie Hall, Mr. Simon jr., mit dem sie im Fundrising-Komitee der Tanglewood-Festspiele saß, konnte sie noch einen Platz in dessen Privatloge ergattern. Ansonsten war der Ticketmarkt im Nu wie leergefegt, und selbst Krausnik, der Anfang der fünfziger Jahre seinen Einflußbereich von Zürich nach New York ausdehnte und die Konzerttournee gemanagt hatte, wunderte sich über die ungewöhnlich große Nachfrage, wo doch die Kartenverkäufe in Boston, Baltimore und Philadelphia eher schleppend gingen.
Das State Departement in Washington hatte sich alle Mühe gegeben, die Tournee als ein Geschenk der Adenauer-Regierung an das amerikanische Volk zu propagieren, mit dem Herzog für die deutsch-amerikanische Freundschaft werben sollte. Doch kaum war er mit seinem Orchester in New York gelandet, kam es zu ersten Protestaktionen.
Schon Stunden vor Konzertbeginn skandierten Demonstranten ihre Parolen vor der Carnegie Hall in der 57 th Straße. » More good music without good Nazis, more good music without good Nazis.« Franziska hatte ein mulmiges Gefühl, als sie aus der Station der Subway kam und las, was die Protestierer auf ihre Transparente geschrieben hatten: » No harmony with Nazis«, » They helped Hitler murder millions«, » The musical dictators of the Hitler regime« und » Musical lovers, do not attend tonight’s bloody concert«. Sie bahnte sich einen Weg durch die aufgebrachte Menge, und als sie das Foyer betrat, wunderte sie sich, an den Garderoben und in den Foyers keine Menschenseele vorzufinden.
Erschrocken schaute sie auf ihre Uhr und glaubte schon, zu spät zu sein. Rasch gab sie ihren Mantel ab und eilte die Treppe zu den Rängen hinauf, wo am Ende des Foyers das Office von Mr. Simon lag, von dem man durch eine diskrete Tapetentür direkt in die vorderste Loge des 1 st Tier gelangte.
Das Vorzimmer war leer, die Tür zum Allerheiligsten stand offen, auf seinem Schreibtisch lagen Akten und Korrespondenzen unordentlich verstreut herum, und selbst der Telefonhörer war nicht aufgelegt– so als hätte Mr. Simon überstürzt sein Büro verlassen, denn die Tür zu dem kleinen Stiegenhaus, das backstage hinunter zu den Aufenthaltsräumen der Musiker führte, war auch nur angelehnt.
Während sie auf die Rückkehr des Managers wartete, studierte sie die vielen gerahmten und signierten Fotos berühmter Künstler an den Wänden, die in der Carnegie Hall je aufgetreten waren, von Louis Armstrong bis Arturo Toscanini. Doch als sich lange Zeit nichts rührte und die Klingel schon zum zweiten Mal den Konzertbeginn anmahnte, öffnete sie die Tapetentür, die zu der Managerloge führte.
Sie trat hinaus und bekam einen Schock: Das riesige Auditorium mit seinen fast dreitausend Plätzen war so gut wie menschenleer. Sie war verwirrt und geriet in Panik wie seit ihrer Kindheit nicht mehr, als sie am Ende der Sommerferien einen Tag zu früh in die Volksschule zum Unterricht gekommen war. Ihre Raum- und Zeitkoordinaten waren damals durcheinandergeraten, und lange stand sie starr vor Schreck in einem leeren Klassenzimmer, unfähig, sich zu erklären, was mit ihr passierte.
Hatte es wegen der Demonstrationen draußen vielleicht eine Absage des Konzerts gegeben, von der sie nichts wußte, oder war nur der Beginn der Veranstaltung verschoben worden? Sie setzte sich in einen der roten Samtsessel und begann, den Handzettel zu studieren, der vor ihr auf der Brüstung lag und zum Boykott der Konzertveranstaltung aufrief.
Da ertönte die Klingel zum dritten Mal, und die Podiumstüren gingen einen Spaltbreit auf. Zögerlich kamen die Musiker auf die Bühne, nahmen verschüchtert ihre Plätze ein und starrten ebenso fassungslos wie sie selbst in den leeren Saal.
Franziska fühlte sich sogleich an jenen verhängnisvollen Premierenabend in Dresden erinnert, nur daß dort die Provokation von einer brüllenden, gewaltbereiten Horde SA-Männer ausgegangen war, die die Karten der Abendveranstaltung aufgekauft hatten, während hier die Demonstranten ihre Verachtung und ihren Protest durch Verweigerung und Abwesenheit ausdrückten.
Plötzlich hörte sie erregte Stimmen im Büro des Managers, und als sie durch die Tapetentür blickte, die ein wenig offen stand, sah sie– ihn!
» …das ist eine ungeheuerliche Provokation, die ich nicht hinzunehmen bereit
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