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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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leitete er jeden Freitagvormittag ein Seminar für Studenten elektronischer Musik und durfte dafür die teuren Mark-II-Synthesizer, mit denen Davidovsky schon seit Anfang der sechziger Jahre experimentierte, für seine eigenen Kompositionen benutzen.
    Sie hatte darauf bestanden, ihn zum Flughafen zu fahren, um ihm vor der Heimreise noch das Ende ihrer Geschichte mit Karl zu erzählen, und parkte ihren blauen Pontiac Boneville vor der Prentis Hall, einem Industriegebäude der Jahrhundertwende im ehemaligen Milchdistrikt, das bis in die Siebziger eine Großmolkerei beherbergt hatte. Das ganze Treppenhaus, hinauf bis zu den Musikstudios der Columbia-Universität in den oberen Stockwerken, roch immer noch nach Käse.
    Sie ging den langen Korridor zu den Hörsälen hinunter, vorbei an kleineren Studios, in denen angehende Solisten der Musikhochschule unterrichtet wurden oder interessierten Musikagenten und Talentsuchern vorspielen konnten. Von allen Seiten drangen Töne durch die Türen wie aus einer anderen Welt, in der musikalische Wesen sich in einer Sprache äußerten, die so kompliziert und schwer zu erlernen war, daß Franziska sich fragte, zu welchem Preis junge Menschen die Strapazen auf sich nahmen, ein Instrument zu erlernen, zu üben, tausendmal danebenzugreifen, innezuhalten und tausendmal noch einmal von vorne anzufangen, bis sie es nach Jahren zu einer gewissen Perfektion gebracht hatten, die sie befähigte, einen Brotberuf daraus zu machen. Während sie auf Joachim wartete, studierte sie am Schwarzen Brett die Stellengesuche, die ihr vorkamen wie Hilferufe, der Anonymität musikalischer Kollektive zu entfliehen, um doch noch eine Karriere zu machen, die auf individueller Einzigartigkeit beruhte.
    Später, als sie schon auf dem Expressway über Randalls Island zum Kennedy Airport fuhren, fragte sie Joachim nach der Zukunft seiner Studenten. Er zuckte nur mit den Schultern. » Keine Ahnung, wovon die alle einmal leben wollen. Vielleicht schafft es einer pro Semester, wenn’s hochkommt zwei. Die restlichen begraben ihre Träume in einem Orchesterkollektiv oder spielen auf Beerdigungen.«
    » Als ich die Zettel am Bulletin board vorhin las, mußte ich an Ihren Vater denken, an seine Zeit vor dreiunddreißig.«
    » Was mir nie so richtig klar gewesen war, daß er damals jünger war als viele meiner Studenten heute, mit einer ebenso ungewissen Zukunft wie sie. Ich weiß nicht, ob ich den Mut besessen hätte, den Versuchungen der Nazis zu widerstehen.«
    » Bravo, jetzt fangen Sie endlich an nachzudenken…« Franziska bog vom Grand Central Parkway in den van Wyck Expressway, der sie direkt zum Terminal 1 brachte, von wo der Air-France-Flug am frühen Abend abging. » …doch darauf kommt es nicht an. Man kann keinen Menschen dazu verpflichten, mutig zu sein.«
    » Worauf dann?«
    » Die Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen!«
    » Wie Sie ja wissen, war mein Vater darin wenig überzeugend.«
    » Damit hat er es seinen Kritikern leichtgemacht, uneinsichtig, wie er war. Aber trotzdem haben ihm manche, die ihn etwas näher kannten, ja verziehen.«
    » Gottwalt auch?«
    Franziska lachte. Sie parkte ihren Pontiac auf dem Besucherparkplatz vor der langgestreckten Abflughalle. » Der war einer der ersten, der ihm die Absolution erteilte!«
    » Und Sie?«
    » Das müßten Sie eigentlich doch schon längst gemerkt haben. Aber ich will Ihnen die Geschichte nicht vorenthalten. Es war im Sommer 1954, als Karl Amadeus Herzog mit einer DC-Intercontinental hier auf diesem Flughafen gelandet ist, der damals noch Idlewild Airport hieß.«

New York – 1954
    In der anonymen Menge eines mehr als tausendköpfigen Konzertpublikums glaubte Franziska sich einigermaßen sicher und geborgen, um Karl nach so vielen Jahren wiederzusehen, ohne Gefahr zu laufen, ihm persönlich zu begegnen. Also faßte sie sich ein Herz und fuhr von Stockbridge nach New York. Mit gemischten Gefühlen hatte sie in den Feuilletons seinen triumphalen Aufstieg in einem Nachkriegsdeutschland verfolgt, das nunmehr den Pultheroen in Salzburg, Wien und Berlin zu Füßen lag, ihren neuen, unverfänglichen, weil apolitischen Ersatzidolen. Vergessenssüchtig und ausgehungert pilgerten die Bürger des Wirtschaftswunders zu den Konzerten wie zu Wallfahrtsorten, im frommen Glauben, die heiligen Hallen der Kunst wären von den Verbrechen der Nazis unbefleckt und rein geblieben.
    Kaum waren die Termine der Goodwilltour angekündigt, waren auch schon alle

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