Augenblicklich ewig
erlebt und gelernt. Ich hatte nur das Gefühl, mir fehlt etwas. Aber das war ja auch kein Wunder. Ich hatte viel durchgemacht, meine Eltern waren tot und ich musste mein Zuhause verlassen. Erst später, als Teenager, wurden die Erinnerungen konkreter. Zunächst in meinen Träumen, und dann waren sie irgendwann einfach da. Ich wusste alles und endlich auch, dass ich dich suchen musste.«
»Ich hätte vermutlich geglaubt, verrückt zu sein, statt mich auf die Suche nach meiner großen Liebe zu machen.« Polly hatte ihrer Stimme einen spaßigen Ton geben wollen, klang jedoch ernster, als sie beabsichtigt hatte.
Sam zuckte mit den Schultern. »Ich bin eben einfach in die Sache reingewachsen, schätze ich. Als ich dein Bild im Kopf hatte, habe ich angefangen, die Augen nach dir aufzuhalten. Gar nicht so leicht, wenn man noch nicht einmal sicher sein kann, auf dem richtigen Kontinent geboren worden zu sein. Immerhin haben wir zuletzt in den USA gelebt.«
»Tatsächlich?«
»Ja, wir sind 1929 ausgewandert. Zum Glück.«
Polly nickte stumm. Jeder kannte die Geschichte und wusste, dass bald danach eine schlechte Zeit angebrochen war, um in Berlin zu leben.
»Erzählst du mir, wie es weiter ging?«
»Es ist auch deine Geschichte. Du hast ein Recht darauf, sie zu kennen.«
»Also, wie hast du mich gefunden?«
»Wie gesagt, ich hielt die Augen auf, wusste aber nicht, wo ich anfangen sollte. In Berlin? In Kalifornien, wo wir zuletzt gelebt hatten? Einerseits erschien mir das logisch, andererseits hatten wir uns im Leben zuvor in New York verloren und in Berlin gefunden. Schließlich habe ich mich entschlossen, auf das Schicksal zu vertrauen und darauf, dass es uns zusammenführt. Ich habe natürlich trotzdem die Zeitungen nach einer Autorin namens Polly durchforstet. Da du bereits zweimal für eine Zeitung gearbeitet hattest, erschien es mir wahrscheinlich, dort mit meiner Suche anzufangen. Immerhin war auch ich wieder Fotograf.«
Polly erschrak. »Also ist sogar unser Beruf vorherbestimmt? Wir haben keine Wahl?«
»Journalistin zu sein, ist meiner Meinung nach nicht direkt deine Bestimmung. Vielmehr liegen dir das Schreiben und das Ergründen interessanter Geschichten im Blut. Die Wahl des Berufs ist dann nur eine logische Folge.«
Seine Antwort beruhigte Polly. Sie wollte sich mit dem Gedanken, ihr gesamtes Leben könnte vorherbestimmt sein, nicht abfinden. »Damit kann ich leben«, sagte sie.
Er schmunzelte. »Sehr gut.«
»Weiter«, bat sie ihn.
»Ich glaube, es gab in ganz Berlin keinen Menschen, der mehr Zeitungen abonniert und gelesen hat als mich. Meine Freunde haben mich damit aufgezogen, aber ich konnte ihnen den wahren Grund dafür natürlich nicht nennen. Wieso hätten sie mir meine Geschichte abkaufen sollen? Ich hätte mir ja selbst nicht geglaubt.«
»Gut, dass ich so leichtgläubig bin«, neckte Polly ihn und griff erneut nach seiner Hand, die Sam immer noch auf dem Esstisch ausgestreckt hatte. Kurz blitzten ihre ineinander verkreuzten Finger über dem roten Seidenkleid vor ihrem inneren Auge auf.
»Mein Glück«, antwortete Sam sanft und streichelte ihren Handrücken. »Schließlich fand ich deinen Namen unter einem Artikel in einer Musikzeitschrift. Polly ist glücklicherweise kein besonders häufiger Name. Alle deine Artikel haben diesen besonderen Klang. Ich war sicher, dich gefunden zu haben. Eine Woche später bin ich nach Köln gezogen und habe mich um einen gemeinsamen Job mit dir bemüht. Schließlich konnte ich nicht einfach auftauchen und dir alles erzählen. Und jetzt ... Jetzt sind wir hier. Mein Plan war nicht perfekt und ich hätte vorsichtiger sein müssen, aber es hat irgendwie funktioniert.« Er klang erleichtert, als wäre er nicht immer so sicher gewesen, wie es auf Polly den Eindruck machte.
Zur Bestätigung drückte sie leicht seine Hand. »Warum warst du so erschrocken darüber, dass meine Eltern noch leben?«
»Bisher waren wir, soweit ich weiß, immer allein. Ich dachte, vielleicht habe ich mich geirrt. Du heißt Polly und siehst aus wie die Frau, an die ich mich erinnere, aber das alles hätte auch nur ein verrückter Zufall sein können.«
»Ist die Ähnlichkeit wirklich so groß?«
»Ja. Sehe ich in deinen Träumen oder Erinnerungen etwa anders aus als jetzt?«
»Du bist schicker, trägst immer einen Anzug«, zog sie ihn auf. Er verzog schmollenden den Mund. »Im Ernst, warum sind wir immer allein?«
»Überleg doch mal, würden wir heute sterben und schon bald
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