Augenzeugen
Deutsch!»
Bonhoeffer schaute ihn prüfend an. «Seine Hauptschlagader hat eine extreme Wandschwäche. Sie ist quasi … wie soll ich es ausdrücken, nun, an einer besonders schwachen Stelle geplatzt. Ausgelöst vermutlich durch einen Stoß gegen die Brust.»
«Und wie kommt man an eine so schwache Aorta?», wollte Toppe wissen.
«Durch eine Krankheit. Ich habe einen Schnellschnitt gemacht, das Präparat müsste gleich fertig sein. Arteriosklerose kann ich ausschließen, deshalb vermute ich mal, dass es sich um eine Bindegewebserkrankung handelt.»
Es klopfte, und ein junger Pfleger kam herein und reichte Bonhoeffer eine Schachtel, in der mehrere Glasplättchen lagen.
«Danke!», nickte der. «Dann wollen wir mal schauen.»
Toppe folgte ihm zum Mikroskop und wartete.
«Keine Fibrozyten, wie ich’s mir gedacht habe», murmelte Bonhoeffer zufrieden, untersuchte aber noch die beiden anderen Objektträger, bevor er sich aufrichtete. «Der junge Mann litt am so genannten Marfan-Syndrom. Das ist eine generalisierte Bindegewebserkrankung, die häufig autosomal vererbt wird. Einfach ausgedrückt», kam er Toppes Einwand zuvor, «das gesamte Bindegewebe des Körpers ist geschwächt, und diese Erkrankung ist in den meisten Fällen erblich. Unser Freund hat anscheinend einen Stoß gegen die Brust bekommen, aber wenn er nicht an dieser Krankheit gelitten hätte, wäre nicht viel passiert. Das Marfan-Syndrom tritt nicht sehr häufig auf. Wenn ich mich recht erinnere, stehen die Chancen 1 : 10 000. Und bei unserem Kandidaten hier ist es noch nicht einmal sehr ausgeprägt. Er hat zwar lange Gliedmaßen und auffallend schmale Hände und Füße, aber wir finden keine Leistenbrüche, keine ausgeprägte Trichterbrust, keine Striae. Aber leider war seine Hauptschlagader schon ganz ordentlich marode.»
«Wie marode?», fragte Toppe. «Meinst du, wenn er hingefallen wäre oder ihm jemand einen freundschaftlichen Knuff gegeben hätte, wäre die Hauptschlagader gerissen?»
«Nein, das sicher nicht. Es muss zum jetzigen Zeitpunkt schon ein sehr heftiger Stoß gewesen sein. In ein paar Jahren hätte das anders ausgesehen. Menschen mit Marfan-Syndrom werden selten älter als dreißig, fünfunddreißig.»
«Die Prügel, die Joosten bezogen hat, hätte also einen gesunden Menschen nicht umgebracht?» Toppe wollte ganz sichergehen.
«Nein», antwortete Bonhoeffer, «aber ich habe da ein Problem. Es sieht nicht nach einer Prügelei aus.»
«Was meinst du?»
«Ich meine, es waren keine Fäuste im Einsatz. Alle Verletzungen, die das Opfer aufweist, sind ihm mit einer Waffe beigebracht worden. Nur leider ist es eine Waffe, die ich nicht kenne. Vermutlich sind es sogar zwei verschiedene Waffen. Ich habe Abdrücke von etwas Stumpfem, relativ Kurzem, Glatten, vielleicht zwanzig Zentimeter lang, und es scheint mir gekrümmt zu sein, aber da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Auf der anderen Seite, das betrifft die Abschürfungen, handelt es sich um eine Waffe, die deutlich kleiner, dafür rau und scharfkantig ist.» Bonhoeffer hob bedauernd die Hände. «Aber wie gesagt, ich kann beides nirgendwo einordnen. Diese Waffen sind mir nie zuvor begegnet.»
Toppe hatte noch nie erlebt, dass Bonhoeffer sich geschlagen gab, und das tat er auch jetzt nicht. «Ich habe die einzelnen Verletzungen fotografiert und werde die Abzüge ein paar Kollegen zukommen lassen. Außerdem werde ich die Kleidung des Toten zum LKA schicken. Vielleicht finden sie Mikrospuren.»
Toppe schloss einen Moment die Augen und rieb sich die Schläfen. «Hat Joosten sich gewehrt?»
«Das ist schwer zu sagen. Die Abschürfungen an den Händen sprechen eigentlich dafür. Aber es ist auch möglich, dass ihm diese und andere Verletzungen beigebracht worden sind, als er bereits tot war. Er hat etliche Hämatome an den Beinen, am Bauch und am Gesäß.»
«Tritte?»
«Nein, keine Tritte, immer nur diese stumpfe, kurze, schmale Waffe. Insgesamt habe ich zweiundvierzig Verletzungen am ganzen Körper gezählt.»
«Blinde Wut», murmelte Toppe.
«Das zu beurteilen liegt, wie immer, Gott sei Dank, bei dir. Alles, was ich sagen kann, ist, dass die Schläge oder Stöße nicht auf eine bestimmte Körperpartie gerichtet waren, sondern wahllos geführt wurden.» Bonhoeffer band seinen Kittel auf und streifte ihn ab. «Leben die Eltern des jungen Mannes noch?»
«Soviel ich weiß, ja. Warum?»
«Weil das Marfan-Syndrom häufig eine Erbkrankheit ist, wie gesagt. Hat er
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