Aura – Verliebt in einen Geist: Band 1 (German Edition)
nicht das gleiche Schicksal ereilte, bewahrte ich es in einem durchsichtigen Plastiktütchen auf. Es war ein Polaroid – ein Schnappschuss von meiner Mutter, auf dem sie auf einem Hügel steht und in die Morgensonne blinzelt, die hinter ihr lange Schatten wirft. Der Wind zerrt am Kragen ihres offenen Regenmantels und zerzaust ihre langen dunklen Locken.
Auf der Rückseite klebte ein gelber Post-it-Zettel mit einer kleinen Notiz von ihr: »Das hat so ein irischer Typ fotografiert, der fand, ich sähe total »mystisch« aus, wie ich da auf dem Hügel stehe und auf den River Boyne schaue (in Wirklichkeit habe ich mich gefragt, wo ich wohl ein Café finde, in dem man nett frühstücken kann).«
Wie immer hauchte ich durch das Plastik der Tüte hindurch einen Kuss auf das Foto, bevor ich es wieder in die Mappe schob.
Mein zweites Lieblingsbild zeigte den Eingang von Newgrange. An seiner Schwelle waren wirbelnde Spiralen in den strahlend weißen Quarzstein gemeißelt und über dem Eingang befand sich die kleine rechteckige Öffnung, durch die nur an einem Tag des Jahres – zur Wintersonnenwende – Sonnenstrahlen in die dahinterliegende Kammer fielen.
Nachdem ich das Foto weggelegt hatte, schlug ich das Tagebuch meiner Mutter auf – oder das, was davon übrig war. Nach dem Eintrag vom 26. Dezember fehlten immer mehr Seiten, und auf denen, die sie nicht herausgerissen hatte, standen mehr oder weniger Belanglosigkeiten: was sie gegessen oder in welchen Pensionen sie gewohnt hatte. Den Aufzeichnungen konnte ich entnehmen, dass ihr allmählich das Geld ausgegangen war.
Der letzte Eintrag war zwar wieder vollständig, brachte aber nicht viel Neues.
Montag, 20. April
Morgen fliege ich wieder nach Hause zurück. Meine Aufgabe hier ist erfüllt. Obwohl … das stimmt so nicht ganz, aber ich kann keine Minute länger hierbleiben. Nicht unter diesen Umständen.
Aber eines weiß ich genau. Ich gehe ganz bestimmt nicht nach Philly zurück. Vielleicht ziehe ich ja nach Baltimore. Ich liebe gedämpfte Krabben.
»Wurde aber auch mal Zeit, dass Gina ins Bett geht.«
Mir fiel fast das Tagebuch aus den Händen. »Du sollst mich doch nicht so erschrecken!«
Das Licht der Stehlampe neben der Couch war so hell, dass ich Logan lediglich als vage violette Kontur wahrnahm, bis ich sie ausknipste, sodass der Raum nur noch vom sanften Schein der Lichterkette am Weihnachtsbaum beleuchtet wurde.
»Eigentlich wollte ich schon früher kommen und nach dir schauen«, sagte Logan. »Aber deine Tante wäre wahrscheinlich nicht sonderlich begeistert gewesen, wenn sie mitbekommen hätte, dass ich da bin.« Er setzte sich auf den Couchtisch. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir das, was gestern passiert ist, selbst ziemlich Angst eingejagt hat. Du hättest meinetwegen sterben können.«
»Ich hatte total vergessen, dass ich die Kette mit dem Obsidian anhatte. Gina hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.« Ich zupfte eine orange Fluse von der gehäkelten Wolldecke. »Das muss für dich auch ziemlich schlimm gewesen sein.«
»Es tut mir unglaublich leid, Aura. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber die rote Bettwäsche und der Obsidian und die Sache mit … mit diesem Typen …« Logans Blick fiel auf die Vase mit den Rosen, die auf dem Tisch stand, und er ballte kurz die Fäuste. »Aber ich will mich nicht herausreden. Ich hätte mich besser im Griff haben müssen.« Er deutete zum Fenster hinaus. »Als du vom Dach gefallen bist, hat es sich für mich angefühlt, als wäre ich ein zweites Mal gestorben. Ich war so verdammt hilflos. Ich konnte dich weder in die Arme nehmen und ins Haus tragen noch nach Gina rufen.«
»Du hast Megan geholt.«
»Ja, aber wenn sie nicht zu Hause gewesen wäre …«
»Wenn Megan nicht zu Hause gewesen wäre, wäre jemand anderes in unserem Alter in der Nachbarschaft aufgewacht und hätte seine Eltern geweckt. Du hast mich gerettet, Logan. Aber … ich mache mir Sorgen um dich.« Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Hast du dich wirklich richtig in einen … ich meine, warst du ein …?«
Er zögerte. »Ja. Ein paar Sekunden lang war ich ein Schatten.«
Ich versuchte mir mein Entsetzen darüber, dass er – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – zu einem Monster mutiert war, nicht anmerken zu lassen. »Wie hat es sich angefühlt?«
»Schwer zu beschreiben. Irgendwie so, als würde man im Dunkeln eine Achterbahn hinunterrasen. Total beängstigend und gleichzeitig aufregend. Ich hatte
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