Aura – Verliebt in einen Geist: Band 1 (German Edition)
sie alle mit der weißen Seite nach oben auf dem Boden gelandet waren.
Zachary beugte sich vor.
»Lass! Ich mach das schon!«, rief ich und beeilte mich, die Fotos wieder einzusammeln.
»Da hinten sind noch zwei.« Er bückte sich unter den Tisch, hob sie auf und drehte sie um. Auf dem einen war die weiße Mauer von Newgrange mit der Eingangsöffnung zu sehen, auf dem anderen Eowyn Harris als junges Mädchen.
Zachary sah mich stumm an und zog fast unmerklich eine Augenbraue hoch. Wir wurde übel.
Eowyn kam um den Tisch herum. »Was ist passiert?«
»Alles okay.« Zachary steckte die Fotos schnell in meinen Ordner zurück, zwinkerte mir zu und wandte sich dann wieder an Eowyn. »Sie haben gerade erwähnt, dass der Chaco Canyon für uns interessant sein könnte?«
»Ah ja!« Sie baute das Modell von Newgrange wieder zusammen und stellte es ins Regal zurück. »Das ist ein Canyon in New Mexico, in dem es einen archaischen Sonnenkalender gibt, mit dem sich der Wechsel der Jahreszeiten auf den Tag genau bestimmen lässt …«
Ich versuchte zuzuhören – oder zumindest den Eindruck zu erwecken –, während sie beschrieb, wie das Volk der Anasazi-Indianer anhand des Verlaufs eines pfeilförmigen Lichtstrahls, der über in den Fels geritzte Spiralen wanderte, den günstigsten Zeitpunkt für die Ernte bestimmen konnten. Aber mein Blick wurde immer wieder wie magisch von dem leuchtend weißen Modell von Newgrange im Regal angezogen.
Zum Abschied bat Eowyn uns, in der ersten Januarwoche mit zwei Sternenkarten wiederzukommen und uns bis dahin zu entscheiden, auf welche der prähistorischen Stätten wir uns in unserer Arbeit konzentrieren wollten. Vielleicht war ich paranoid, aber sie machte plötzlich einen so besorgten und nervösen Eindruck auf mich, dass sie mir vorkam wie eine Mutter, die ihre beiden Kinder auf eine gefährliche Reise schickt.
Zachary sagte kein Wort, als wir aus dem Gebäude traten und im strömenden Regen über den Parkplatz liefen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.
»Wieso fragst du mich nicht einfach?«, sagte ich, als wir am Wagen waren. »Ich weiß doch, dass es dich brennend interessiert.«
»Es hätte aber keinen Sinn zu fragen, wenn du mir keine Antwort geben würdest, stimmt’s?«
»Es ist fast beängstigend, wie viel Geduld du hast«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Weißt du was?« Zachary grinste mir über das Wagendach hinweg zu. »Du hast keine Ahnung.«
Zwölftes Kapitel
Das »Free Spirit Café« in Charles Village war unter Post-Shiftern nicht sonderlich beliebt, weshalb auch Megan und ich bisher nie dort gewesen waren. Der Marketing-Gag, dort Geister als Bedienungen arbeiten zu lassen, kam bei Leuten, die sowieso schon ständig welche sahen, nicht wirklich gut an. Die meisten der Gäste waren junge Eltern, die es witzig fanden, wenn ihr Nachwuchs ihre Cola bei einem freundlichen Geist ordern konnten.
»Ich habe gehört, dass der Service hier echt mies sein soll«, murmelte Megan, als wir uns an einen der Zweiertische vor dem Fenster setzten, das mit schwarzer Farbe zugepinselt worden war, damit kein Tageslicht ins Lokal drang. »Angeblich tun manche von den Geistern bloß so, als würden sie die Bestellung aufnehmen, und sind dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.«
»Ich kenne Cafés, da passiert einem das mit lebenden Bedienungen, bloß dass die keine Ausrede haben.«
Die Wand hinter Megan war mit einem dunkelblauen Nachthimmel bemalt, vor dem violette Geister berühmter Menschen, die sich zu Lebzeiten niemals begegnet sein konnten, miteinander feierten. Elvis rockte mit Sokrates ab und Benjamin Franklin prostete Julius Caesar zu …
Ich fand es immer wieder rührend, was für verquere Vorstellungen Prä-Shifter von Geistern hatten. Jeder Jugendliche unter sechzehn wusste, dass so ein Szenario wie auf dem Wandgemälde völlig utopisch war, weil Geister gar nicht mit anderen Geistern kommunizieren konnten. Abgesehen davon verloren prominente Geister ziemlich schnell die Lust an einem Nachleben in unserer Welt. Wenn nach der pompösen Beisetzung und der Flut der Erinnerungssendungen im Fernsehen die kollektive Trauerhysterie versiegte und niemand mehr über sie sprach, wechselten die meisten ziemlich schnell hinüber. Angeblich gab es auch welche, die aus lauter Verzweiflung darüber, nie mehr im Rampenlicht stehen zu dürfen, zu Schatten mutierten, ich hatte daran allerdings meine Zweifel. Schatten waren dunkle, von Hass zerfressene, nur noch sehr entfernt
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