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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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des Waldes, dessen Rand sich vor dem Abendhimmel abzeichnete. Ein Paar Scheinwerfer leuchtete zwischen den Bäumen auf und verschwand dann wieder. Wahrscheinlich eine Patrouille, dachte Suworin und unterdrückte ein Gähnen. Es machte ihm nichts aus, Netto das Reden zu überlassen. Der Junge sollte seine Chance bekommen.
    Über ein Notizbuch mit schwarzem Wachspapierumschlag, das einmal dem Genossen Stalin gehörte.
    »Verdammter Mist«, sagte Arsenjew leise, und sein schwammiges Gesicht straffte sich.
    »Der Anruf wurde heute nachmittag getätigt, um vierzehn Uhr vierzehn, und zwar von diesem Mann«, fuhr Netto fort und händigte den anderen je eine dünne, gelblichbraune Mappe aus.
    »Dr. Christopher Richard Andrew Kelso, gewöhnlich ›Fluke‹
    genannt.«
    »Also, das ist hübsch«, sagte Suworin, der das Foto bisher noch nicht gesehen hatte. Es kam wohl gerade erst aus der Dunkelkammer, denn es roch noch nach Fixiernatrium.
    »Wo sind wir?«
    »Im zweiten Stock, Innenhof, gegenüber dem Eingang zu Mamantows Treppenhaus.«
    »Also können wir uns jetzt eine Wohnung im Haus am Kai leisten?« knurrte Arsenjew.
    »Sie steht leer. Kostet uns keinen Rubel.«
    »Wie lange ist er geblieben?«
    »Traf um vierzehn Uhr zweiunddreißig ein, Oberst. Ging um fünfzehn Uhr sieben. Einer unserer Männer, Leutnant Bunin, erhielt den Befehl, ihm zu folgen. Kelso stieg an der Station Borowizkaja in die Metro ein und verließ sie nach einmaligem Umsteigen an der Station Krasnopresnenskaja. Von dort aus ging er zu einem Haus hier« Netto legte den Zeigefinger auf den Stadtplan – »in der Wspolny-Straße, das er unbefugt betrat. Er verbrachte ungefähr fünfundvierzig Minuten auf dem Grundstück. Dem letzten Bericht zufolge war er zu Fuß in Richtung Gartenring unterwegs. Das war vor zehn Minuten.«
    »Was bedeutet das ›Fluke‹?«
    »›Dusel‹, Oberst«, sagte Netto stolz. »Oder ›unerwarteter Erfolg‹.«
    »Sergo? Wo bleibt der verdammte Kaffee?« Arsenjew war ungeheuer fett und hatte die Angewohnheit einzuschlafen, wenn er nicht stündlich Koffein verabreicht bekam.
    »Kommt gleich, Juri Semjonowitsch«, sagte eine Stimme aus der Gegensprechanlage.
    »Kelsos Eltern waren beide in den Vierzigern, als er geboren wurde.« Arsenjew richtete erstaunt eines seiner Schweinsäuglein auf Wissari Netto, während er das andere zukniff. »Wieso interessieren wir uns für seine Eltern?«
    »Also…« Der junge Mann wußte nicht weiter, richtete den Blick hilfesuchend auf Suworin.
    »Für Kelsos Eltern war er ein glücklicher Zufall«, sagte Suworin. »Darin liegt der Witz. Es ist ein Witz.«
    »Und das soll komisch sein?«
    Die Antwort blieb ihnen erspart, weil Arsenjews Sekretär den Kaffee hereinbrachte. Auf dem blauen Becher stand I LOVE NEW YORK. Arsenjew hob den Becher, als wollte er auf ihr Wohl trinken. »Also erzählen Sie mir«, sagte er und blinzelte durch den Dampf über den Becherrand hinweg, »von Mister Fluke.«
    »Geboren 1954 in Wimbledon, England«, sagte Netto, der von der Akte ablas. (Er hat gute Arbeit geleistet, dachte Suworin, wenn er das alles im Laufe eines Nachmittags zusammengetragen hat – der Junge war tüchtig und hatte eine Menge Ehrgeiz.) »Vater ein typischer Kleinbürger, Angestellter in einer Anwaltskanzlei; drei Schwestern, alle älter; normale Schulbildung; 1973 Stipendium für ein Geschichtsstudium am St John’s College, Cambridge, das er 1976 mit Auszeichnung abschloß…«
    Suworin hatte dies alles bereits überflogen – die Personalakte, die aus der Registratur ausgegraben worden war, ein paar Zeitungsausschnitte, die Eintragung im Who’s Who. Jetzt versuchte er, die Biographie mit dem Schnappschuß von einer Gestalt im Regenmantel beim Verlassen einer Wohnung in Einklang zu bringen. Das Foto war so körnig, daß es irgendwie an die fünfziger Jahre erinnerte: Der Mann, der mit einer Zigarette im Mund einen Blick über die Straße warf, sah aus wie ein etwas heruntergekommener französischer Schauspieler, der einen Detektiv spielt. Fluke. Bleibt ein Name kleben, weil er zu einem paßt, oder entwickelt man sich unbewußt so, daß einem der Name immer mehr entspricht? Fluke, der verwöhnte und faule Teenager, von allen Frauen in der Familie verhätschelt, der seine Lehrer verblüfft, indem er ein Stipendium für Cambridge gewinnt – das erste in der ganzen Geschichte seiner Schule. Fluke, der unbekümmerte Student, der nach drei Jahren ohne erkennbare Anstrengung sein Geschichtsstudium als

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