Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
steckten. Sanitäter mit einer Trage waren in die
Bar gestürmt und wurden von dem dickbäuchigen Koloss in Empfang genommen: „Ich
bin Arzt, erst diesen Verletzten in die Versorgung“, Hanson sah dicke,
fleischige Finger auf sich zeigen, „den habe ich gerade noch reanimieren
können, was mich richtig ins Schwitzen gebracht hat. Der andere ist weniger
schwer verletzt. Dem habe ich nur ein Lokalanästhetikum verabreicht“. Sanitäterarme
drängten sich zu Hanson durch und übernahmen die Versorgung. Gerber war
aufgestanden und half der Leibesfülle, es ihm gleichzutun. Der Ballast seines
gewaltigen Bauches widerstand diesem Versuch. Erst mit der Hilfe zweier
zusätzlicher Arme ließ sich die Erdanziehungskraft überwinden.
Kapitel 34
Berlin, Charité, Sonntag, 30.04.1995, 01.35 Uhr
Die Ereignisse hatten sich überschlagen. Auch
ein guter Beobachter aus sicherer Distanz würde kaum eine exakte Chronologie
des Geschehens zu Protokoll geben können, überlegte Schukow.
Der Bulle hatte nicht geblufft. Die junge Frau
am Ecktisch war aufgesprungen und zielte mit ausgestreckten Armen und einer
großkalibrigen Pistole in seine Richtung. Der ungeheure Schmerz in seiner
Magengegend hinderte ihn, seine Arme hochzureißen, um sich zu ergeben, um dem
Bullen seine Aufgabe zu signalisieren. Er bekam keine Luft, konnte nicht mehr
atmen. Parallel hierzu, im gleichen Augenblick, sah er das Mündungsfeuer aus
der Pistole der jungen Frau und verspürte einen Wimpernschlag später den
heftigen Schlag im linken Schultergelenk. Seine Gelenkknochen waren
zersplittert und die Nervenbahnen durchschossen, sie leiteten seinen Willen,
den Derringer fallenzulassen nicht weiter. Stattdessen vernahm sein linkes Ohr
ein unerklärliches Knirschen aus der Schulter, als rieben sich Knochensplitter
auf Knochen. Mit seinem rechten Arm suchte er sich auf den Barhocker zu
stützen, der eben noch seinen Wintermantel beherbergte. Er fand keinen Halt,
der Einschlag war zu heftig, er rang nach Atemluft und spürte, wie sein
Blutdruck absackte. Das letzte, was Schukow in Windeseile dachte, bevor ihm
schwarz vor Augen wurde, war, dass die junge Polizistin in der Ecke eine
exzellente Combat-Schießausbildung genossen haben musste. Zwei Treffer in einer
solch rasanten Feuergeschwindigkeit punktgenau ins Ziel zu setzen, zeugte von
jahrelangem Training. Aber warum nur hat sie ihm erst in den Bauch und dann in
die Schulter geschossen, oder war es umgekehrt? Das würde Sinn machen. Erst den
waffentragenden Arm außer Gefecht zu setzen, wäre schulmäßiges Handeln einer
gutausgebildeten Polizistin gewesen. Dann hätte sich der Bauchschuss erübrigt.
Jetzt dämmerte es ihm, er wurde nur einmal
getroffen. Der Bulle hatte ihm mit unbändiger Kraft einen Fauststoß in den
Bauch versetzt.
Obwohl ihn Düsternis umgab, hörte Schukow alles,
was um ihn herum geschah. Er lag auf dem Rücken, der Schlips wurde ihm geöffnet
und Finger tasteten nach seiner Halsschlagader. Dann stockte das Blut in seinen
Adern, diese kehligen Stimmlaute kannte er. Das Herz in seiner Brust fühlte er
plötzlich bis zum Hals schlagen. Die Schwärze um ihn herum löste sich auf, die
Gegenstände nahmen wieder Konturen an und er blickte in ein kleines Gesicht,
das auf einem mächtigen Doppelkinn ruhte. Dann vernahm Schukow wie aus weiter
Ferne die Stimme des dicken Dänen. Eine Stimme, die ihn schon während des
Fluges nach Berlin immerzu genervt hatte. In seinem Schatten stand die junge
und exzellente Pistolenschützin mit seinem Derringer in der Hand. Sie hatte ihm
die Waffe wohl entwunden. „Ach, übrigens, ich kenne diesen Menschen, ich bin
mit ihm im gleichen Flieger von Warschau gekommen, Herr Kommissar. Sein
Schulterdurchschuss ist nicht bedrohlich, er wird’s überstehen“.
Kapitel 35
Berlin, Charité, Mittwoch, 03.05.2995, 04.55 Uhr
Hanson war ein nachdenklicher Mensch,
möglicherweise ein bisschen philosophisch geprägt. Ständig versuchte er
Sachverhalte zu hinterfragen, leuchtete sie in voller Breite aus und drang
dabei oft in Tiefen vor, in der die Wahrheit sich manchmal in einem völlig
anderen Licht zeigte. Dieses Abwägen der oft sich widersprechenden Umstände,
das Beleuchten des Für und Wider hatte Wolf ihn gelehrt. Er nannte es den
kritischen Dialog mit den unterschiedlichen Wahrheiten. Es sollte immer ein
Dialog ohne Moralbewertungen sein, war sein Credo. Gegen einen Delinquenten
einen moralischen Kreuzzug zu führen, um ihm eine Aussage zu
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