Aurora
musste eine sehr schwierige Entscheidung treffen, Tom.
Und ich weiß auch jetzt noch nicht, ob das, was ich gleich tun und sagen werde, richtig ist.«
»Sprechen Sie es doch einfach aus und warten Sie ab, was dabei herauskommt.«
»Bevor Sie an Bord gehen, werde ich Ihnen ein Dokument
zugänglich machen. Ich lasse es auf Ihr Notepad überspielen.«
»Ich soll ein Dokument lesen?«
»So einfach ist es nicht. Sie haben zwar die Pangolin-Privilegierung, aber diese Sache steht eine Stufe höher. Dazu brauchen Sie Manticore.«
»Manticore habe ich nicht.«
»Aber ich kann es Ihnen gewähren. Ob Sie das Privileg
benützen oder nicht, liegt dann bei Ihnen.«
»Warum sollte ich zögern?«
»Wegen des Inhalts, Tom. Wahrscheinlich wird es Sie
nicht weiter überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass das Dokument von der letzten Uhrmacher-Krise und den Ereignissen um das Sylveste-Institut für Künstliche Mentalisierung handelt. Damit betrifft es auch Valery.«
»Ich verstehe.«
Ihre Stimme war sehr sanft geworden. »Nein, Sie verste-
hen mich nicht. Noch nicht. Verstehen werden Sie erst,
wenn Sie das Dokument gelesen haben. Damals ist etwas
geschehen, Tom, was Sie persönlich sehr getroffen hat.«
»Ich habe meine Frau verloren. Was könnte mich noch
mehr treffen?«
Aumonier schloss die Augen. Er spürte, wie schwer ihr
die nächsten Worte fielen.
»Was damals im SIKM geschah ... war nicht das, was in
die öffentlichen Archive einging. Dafür gab es gute Gründe.
Aber Sie wollten mit den wahren Fakten nicht leben.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie waren in die Uhrmacher-Affäre tiefer verwickelt, als Sie sich selbst in den letzten elf Jahren eingestehen wollten.
Nach der Krise waren Sie ... seelisch gestört. Sie konnten Ihren Dienst als Präfekt nicht mehr ausüben. Nachdem Sie das selbst erkannt hatten, beantragten Sie einen entsprechenden Eingriff.«
Obwohl er schwerelos im Raum schwebte, hatte Dreyfus
das Gefühl, durch einen dunklen Schacht in unergründli-
che Tiefen zu stürzen.
»Was heißt das?«
»Man hat auf Ihren eigenen Wunsch eine selektive Am-
nesierung vorgenommen. Ihre Erinnerungen an die Uhr-
macherkrise wurden gewaltsam unterdrückt.«
»Aber in den Unterlagen steht, ich wäre gar nicht in der Nähe des SIKM gewesen«, protestierte Dreyfus.
»Die Unterlagen sind nicht korrekt. So vieles, was an
jenem Tag geschah, sollte ohnehin geheim bleiben, da
war es eine Kleinigkeit, für Sie einen anderen Einsatzort zu fingieren. Es geschah mit meinem vollen Einverständnis.«
Dreyfus war sicher, dass sie ihn nicht belog. Sie hatte keinen Grund dafür, nicht gerade jetzt. Obwohl es ihr fast das Herz zerriss, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Und die fehlenden sechs Stunden? Was geschah mit der
Atalantal«
»Das steht alles in dem Dokument. Nehmen Sie Manti-
core, und Sie werden verstehen, warum wir lügen mussten.
Bedenken Sie, dass Sie an der Wahrheit fast zerbrochen
wären. Seit elf Jahren beschütze ich Sie nun schon vor den Erinnerungen, die Sie auf eigenen Wunsch wegsperren lie-
ßen. Aber jetzt muss ich Ihnen den Schlüssel geben, der sie Ihnen wieder aufschließt.«
»Kann es wirklich helfen, die Vergangenheit aufzuwüh-
len?«, fragte Dreyfus so kleinlaut wie ein Kind.
»Ich weiß es nicht. Aber ich kann Sie nicht da hinun-
terfliegen lassen, ohne Ihnen alle Informationen über den Uhrmacher zur Verfügung zu stellen. Ob Sie sie haben wollen, müssen Sie letztlich selbst entscheiden.«
»Ich verstehe.«
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen das antun muss, Tom.
Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe...«
Er betrachtete die dünne rote Linie, die sich wie die Vorahnung einer Narbe über ihre Kehle zog. »Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen.«
Captain Pell sprach mit Thyssen, als Dreyfus die belüftete Beobachtungsplattform über der Bugrampe betrat. Pell war in groben Zügen über seine Mission informiert worden,
ihren genauen Zweck kannte er jedoch noch nicht.
»Wir tauchen wie jedes andere Schiff auf dem Weg nach
Chasm City in die Atmosphäre ein«, sagte Dreyfus. »Aber sobald wir unter der Wolkendecke sind, nehmen Sie Kurs
auf die andere Hemisphäre. Ist das möglich, ohne dass uns Aurora bemerkt?«
»Ich kann für nichts garantieren«, sagte Pell. »Wenn wir mit Überschall fliegen und sie zufällig Sensoren auf den richtigen Himmelsabschnitt gerichtet hat, könnte ihr die Verwirbelung unseres Machkegels in der Atmosphäre auffallen.«
Dreyfus
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