Aus Dem Dunkel
größer als die anderen Männer, und posierte für die Kamera, eine Hand besitzergreifend auf Helens Schulter gelegt. Aus Neugier blätterte er die Seite um – und da waren sie beide, wie sie sich küssten.
Gabe blieb die Luft weg. Er beugte sich vor, näher an die Großaufnahme heran, mit dem Bedürfnis, seine Frau zu küssen. Angesichts des Ausdrucks auf ihrem Gesicht stieg Hitze in ihm auf. Sie hatte einen verführerisch verklärten Blick, und die Lippen waren leicht geöffnet. Mein Gott, sie sah so wunderschön aus!
Während er ihr Bild anstarrte, begriff er, dass sie ihm heute etwas vorgemacht hatte. Dem Arzt hatte sie erzählt, sie habe Gabe geheiratet, damit Mallory einen Vater bekomme. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Diese Bilder zeigten deutlich, wie verliebt sie in ihn gewesen war. Eine Sekunde lang genoss Gabe diese Erkenntnis. Aber dann erinnerte er sich wieder an seinen momentanen Zustand, und seine Laune verschlechterte sich abrupt. Er war nicht mehr derselbe Mann wie früher, sondern im wahrsten Sinne des Wortes mit Narben übersät. Kein Wunder, dass Helen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Gabe erhob sich und holte frische Sachen aus der Kommode. Dann ging er durch den Flur zu Mallorys Bad, um zu duschen und diesen miesen Tag hinter sich zu bringen.
Wie schon am Abend zuvor munterte ihn das Fliesendesign mit Sonne und Mond auf. Er warf seine schmutzigen Sachen in den Wäschekorb und fragte sich, wann Helen die Zeit fand, die Hausarbeit zu erledigen. Vielleicht konnte er sich am nächsten Tag um die Wäsche kümmern, wenn sie bei der Arbeit war. Er würde auch den Messinghaken im Bad wieder festschrauben, der schon fast von der Wand fiel.
Nachdem er sich diese Aufgaben gesucht hatte, fühlte er sich ein bisschen besser. Wenn er sich nützlich machte, würde Helen vielleicht nicht ganz so sehr danach lechzen, ihn loszuwerden. Und wenn er seine Karten richtig ausspielte, würde es ihm eines Tages vielleicht sogar gelingen, wieder mit ihr zu schlafen. Nicht, dass er sich selbst genug über den Weg traute, um tatsächlich eine Nacht in ihrem Bett zu verbringen, schließlich hatte er sogar den Master Chief für einen seiner Entführer gehalten. Wer wusste schon, was er dann mit seiner ahnungslosen Frau anstellen würde.
Aber er zäumte das Pferd gerade von hinten auf. Der erste Schritt bestand darin, zu erreichen, dass Helen seine Anwesenheit zu schätzen wusste. Dazu musste er sich unentbehrlich machen. Er würde sich um all die Kleinigkeiten kümmern, die zu erledigen waren. Er würde der perfekte Vater für Mallory sein, die sich ohne ersichtlichen Grund ein halbes Dutzend Löcher ins Ohr hatte stechen lassen.
Erfrischt von der Dusche und zufriedener mit sich selbst, weil er einen Plan hatte, schlüpfte Gabe in seine Sachen. Er ging hinüber ins Arbeitszimmer und bemerkte Helen vor Mallorys Tür. Er lächelte ihr zu, woraufhin sie aber nur misstrauisch die Stirn runzelte.
Sie drehte an Mallorys Türknauf. »Schätzchen, was machst du?« Sie warf einen Blick ins Zimmer.
»Lesen.« Mals Stimme klang, als käme sie von der Decke. Sie lag offenbar oben auf ihrem Etagenbett.
»Tatsächlich.« Mit dieser skeptischen Bemerkung schlüpfte Helen ins Zimmer ihrer Tochter.
Gabe hatte zuvor schon einen Blick in Mallorys Reich geworfen. Jetzt sah er es vor seinem geistigen Auge: ein mächtiges, mit Plüschtieren übersätes Hochbett, pinkfarbene Wände, weiße Möbel. Die mädchenhafte Einrichtung wurde allerdings ruiniert durch Poster von Popstars und Rappern sowie Sticker mit der Aufschrift: »Bin völlig genervt und niemand ist da, den ich umbringen kann.«
Er stellte sich vor, wie Helen auf das Bett zuging. » Das ist kein Buch«, sagte sie. Dann hörte man das Rascheln einer Zeitschrift.
»Hey, jetzt habe ich die Seite verblättert!«, protestierte Mallory.
»Wenn du lesen willst, dann fang endlich mit den Büchern von eurer Literaturliste für die Sommerferien an«, erwiderte ihre Mutter.
»Die Bücher hasse ich!«
Gabe sah eine Gelegenheit, seinen neuen Plan in die Tat umzusetzen. Also ging er über den Flur und steckte den Kopf zur Tür herein.
»Du hast sie ja noch nicht einmal angelesen. Woher willst du dann wissen, dass du sie hasst?«, entgegnete Helen. Sie hatte sich nach vorn gebeugt und kramte in einem Bücherregal herum, ohne Gabes Anwesenheit zu bemerken.
Umgekehrt fiel sie ihm nur allzu deutlich ins Auge. Er vergaß Mallory völlig, als er Helens perfekten A… nun
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