Aus Dem Dunkel
deine Vorbilder, Gabe?«
Er warf ihr einen komischen Blick zu und hielt beim Essen inne, wobei er seine Pizza auf halbem Weg zum Mund in der Hand behielt. »Äh … «, er kramte in seinem Gedächtnis. »Ich denke, Bruce Springsteen zählt da wohl nicht?« Mit zusammengekniffenen Augen dachte er einen Moment lang nach. »Senior Chief Black, der mir gesagt hat, dass ich Offizier werden könne. Oh, und Sergeant O’Mally«, erklärte er entschieden.
»Wer war das?«, wollte Mallory wissen.
Gabe stockte kurz. »Habe ich euch nie von Sergeant O’Mally erzählt?«, fragte er dann.
Mutter und Tochter schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Tatsächlich? Wow. Also er war ein Cop, der auf der Acushnet Street Streife gefahren ist, als ich noch ein Kind war. Er hatte so eine große schwarze Harley mit einer Sirene vorn dran.«
»Und?«, hakte Helen nach, fasziniert von seiner unerwarteten Antwort.
»Damals war er wie ein Vater für mich. Als Kind habe ich eine Menge Mist gebaut«, gestand Gabe mit einem leichten Lächeln. »Es hat niemanden interessiert, ob ich die Schule geschwänzt oder irgendein Gesetz gebrochen habe, deswegen hatte ich oft Ärger am Hals. Und jedes Mal, wenn das geschah, erschien Officer O’Mally und stieg von seiner Harley. Er hielt mir eine Standpauke und sagte mir, ich solle mein Leben in Ordnung bringen. Er hat meistens dafür gesorgt, dass ich nicht ins Gefängnis gekommen bin, bis ich dann mal ein Auto geklaut habe.«
»Du hast ein Auto geklaut!« Mallory schnappte nach Luft, und ihr blieb der Mund offen stehen.
Gabe sah zu Helen, als wäre er besorgt, etwas Falsches gesagt zu haben. Er ging offensichtlich davon aus, dass sie die Geschichte bereits kannte, aber das tat sie nicht. Gabe hatte niemals irgendwelche Verfehlungen aus der Vergangenheit zugegeben. Soweit Helen bekannt war, hatte er eine ganz normale, wenn auch etwas einsame Kindheit verlebt, ohne Brüder oder Schwestern, nur mit einer Großmutter, die ihn aufzog, nachdem seine Eltern gestorben waren. Ausdruckslos erwiderte sie seinen Blick.
Mit einem Schulterzucken fuhr Gabe fort. »Es ist sicher keine Entschuldigung, aber meine Großmutter war einfach zu … alt, um mich im Auge zu behalten. Ich hatte keine Mom und keinen Dad, so wie du«, fügte er vielsagend hinzu. »Jedenfalls bezahlte Sergeant O’Mally meine Kaution, damit ich aus dem Gefängnis kam. Vor Gericht hat er dann für mich ausgesagt, und irgendwie bin ich dann freigesprochen worden. Allerdings unter der Auflage, dass ich zum Militär gehe.«
Verblüfft bemerkte Helen, wie Gabe rot wurde. Offensichtlich war er nicht besonders stolz auf seine Vergangenheit, aber dennoch erzählte er nun die Wahrheit. Anscheinend hatte er sich, wie es bereits von Dr. Terrien angedeutet worden war, in den langen Monaten seiner Gefangenschaft mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Davon, dass seine Kindheit so schwierig gewesen war, hatte Helen nichts gewusst.
Und die Wahrheit machte ihn für sie auf seltsame Weise noch anziehender.
Schließlich war er auch nur ein Mensch, nicht die makellose männliche Maschine, die jeden Schritt fehlerlos ausführte und in deren Gegenwart sich alle anderen unterlegen fühlten.
Mallorys Neugier war nun erst recht geweckt. »Wie alt warst du, als deine Eltern gestorben sind?«, erkundigte sie sich.
»Schätzchen, iss auf, bevor alles kalt wird«, unterbrach Helen sie, um Gabe die Antwort zu ersparen.
Dieser runzelte die Stirn. »Meine Mutter ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Habe ich euch das noch nie erzählt?«
»Nein«, antwortete Mallory für sie beide.
»Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
Das hatte Helen bereits gewusst, aber beim letzten Mal war die Rede von beiden Elternteilen gewesen.
»Und was ist mit deinem Dad?«, ließ Mallory nicht locker.
Gabe schob die Krümel auf seinem Teller säuberlich zusammen. »Ich habe meinen Dad nie gekannt«, erklärte er sachlich. Helen klappte der Unterkiefer nach unten. »Er war Fischer, der mit seinem Schiff im Hafen vor Anker lag und meine Mutter geschwängert hat. Meine Großmutter hat ihn ausfindig gemacht und versucht, Unterstützung von ihm zu bekommen, aber er ist dann wieder untergetaucht.«
Er hatte sie angelogen. Der alte Gabe hatte sie angelogen.
Verblüfft konnte Helen ihn nur anstarren, während ihr Herz wie wild schlug. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr gegenüber erwähnt, dass er das Ergebnis eines kurzen Intermezzos war und seinen Vater nie
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