Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
der deutschen Botschaft in Prag ins Leere gesprochen. Amerikanische Präsidenten stünden erschüttert vor der Mauer und wären sich nie so ganz sicher, ob sie sich jetzt im freien oder im unfreien Teil Berlins befinden.
Auch sportlich stünde alles sehr viel besser. Der Weltrekord über 100 Meter läge bei 5,4 Sekunden, dank vierzigjähriger ungebrochener Dopingtraditon. Kugelstoßen 53,22 m, Speerwurf 258,23 m, Weitsprung 21,03 m, Hochsprung 4,16 m und Stabhochsprung 14,69 m. Es würde nicht in jeder zweiten Sportsendung Kati Witt auftauchen, und Jens Weißflog wäre kein Skisprungexperte, sondern das zweitschönste Gesicht des Sozialismus.
Wolf Biermann hätte ein richtig gutes Thema, an dem er sich abarbeiten könnte, und würde vielleicht sogar mal wieder ein bemerkenswertes Album hinkriegen.
Wir müssten uns nicht durch 976 Seiten »Der Turm« durchackern und brauchten das auch nicht gut finden. Wir wüssten noch nicht mal, wer die Puhdys sind.
Suhrkamp wäre nach Bonn umgezogen, weil Bonn unsere Hauptstadt und Berlin die Hauptstadt der DDR wäre. Die Loveparade würde Weltjugendfestival heißen und in Duisburg wäre es 2010 nicht zur Katastrophe gekommen.
Billy-Regale wären noch echte Qualitätsarbeit, weil sie in der DDR hergestellt worden wären, es wäre wahrscheinlich vieles bei IKEA billiger. Die Frauenkirche in Dresden wäre immer noch ein Bausatz und damit natürlich ein eindringliches Mahnmal.
Wenn es die Einheit nie gegeben hätte, dann könnten sich die Zeitungen überflüssige Einheitsbeilagen und die Fernsehanstalten tagelange Sondersendungen sparen, die Politiker müssten nicht dieselben Einheitsreden wieder und wieder aufwärmen, und auch dieser infame Artikel hätte nie geschrieben werden müssen.
Wir müssten auch nicht ständig damit rechnen, dass man endlich die Stasi-Akten von Maybrit Illner oder Andrea Kiewel oder Kirsten Otto findet, wir wüssten nicht mal wer Andrea Kiewel ist, von Carmen Nebel ganz zu schweigen. Die Grünen würden dagegen zuverlässig von der Stasi ferngesteuert, was vor allem bei Joschka Fischer und Claudia Roth ganz interessant ausgesehen hätte.
Wenn es die Einheit nie gegeben hätte, dann wäre natürlich auch in der DDR nicht alles beim Alten geblieben. Sie hätten da mit Sicherheit eine neue Nationalhymne, komponiert von dem volkseigenen Ensemble »Randfichten«, und die erste Zeile lautete: »Lebt denn der alte Honecker noch?«
Vorsicht! Wachsende Klüfte
An meiner Bushaltestelle hängt ein Plakat. Es zeigt ein Verkehrsschild, auf dem links und rechts zwei Berge abgebildet sind und dazwischen gähnt ein tiefer Abgrund. Der eine Berg heißt »reich« und der andere »arm«. Darüber steht geschrieben »Die Kluft wächst«. Gemeint ist wohl der Abgrund, der sich zwischen Reich und Arm auftut. Das ist natürlich nur eine, tja, was eigentlich? Eine Metapher? Eine Allegorie? Ein Suchbild? Auf jeden Fall gibt es solche Warnschilder in Wirklichkeit gar nicht. Vor Klüften wird nirgendwo gewarnt. Das Plakat will mich auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Zwei Berge, durch einen Abgrund voneinander getrennt, einen Abgrund voller schiefer Symbolik. Arm und Reich sind zwei genau gleich große Berge und das bedeutet wohl, es gibt genauso viele arme wie reiche Menschen in Deutschland.
Die Reichen leben auf ihrem Berg auf teuren Hanggrundstücken mit Kluftblick, die Armen in sozialer Schieflage ohne Perspektive. Aber wo wohne ich auf diesem Bild? Ich würde mich weder als arm noch als reich bezeichnen, also lebe ich wohl in der Kluft, die immer größer wird. Sicher nicht ungefährlich, weil man ständig von herabfallenden Armen oder Reichen erschlagen werden kann.
Es steht wirklich nicht zum Besten mit den Armen und den Reichen in diesem Land. Denn zwischen ihnen liegt ja nicht nur diese Kluft. Zwischen Arm und Reich liegt auch eine Schere. Und die geht immer weiter auf. Die Schere zwischen Arm und Reich liegt irgendwo am Grund der geheimnisvoll wachsenden Kluft, wo sie ständig weiter und weiter aufgeht. Gibt es überhaupt so große Scheren? Solche Scheren können sich doch nur sehr, sehr reiche Menschen leisten.
Zahnfeepflichten
Meiner Tochter wurden drei Weisheitszähne gezogen. Erst sollte es nur einer sein, aber wenn der leicht rausginge, dann wollte der Zahnarzt auch zwei ziehen. Schon der erste klemmte und musste unter Einsatz von bedrohlichen Werkzeugen aus dem Kiefer gebrochen werden. Danach suchte der Zahnarzt weiter nach dem einen
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