Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
Zeit, die jetzt vor unseren Kindern liegt, aber ich bin längst schwer ins Grübeln gekommen.
Wäre ein Privatlehrer oder eine Klosterschule nicht doch besser gewesen? Allerdings auch teurer. Die staatliche Regelschule dagegen ist umsonst, man bekommt sogar einiges geschenkt. Einen Vortrag über eine Schultüte zum Beispiel, deren Inhalt der Pastorin Gelegenheit zum Sinnieren gibt. Als erstes hält sie eine orangefarbene Schirmmütze in die Höhe. Die sollen alle Erstklässler tragen, damit sie auf dem Weg zur Schule »gut gesehen werden«. Wird damit nicht dem Triebtäter die Arbeit allzu leicht gemacht, und warum soll meine Tochter überhaupt eine orangefarbene Kappe mit dem Aufdruck »Taunus Sparkasse« durch die Gegend tragen? Sie ist doch keine Radrennfahrerin. Sie ist noch nicht mal gedopt. Vielleicht dient diese Kappe als zarter Hinweis an mich, den Vater, meine Dopingpflichten gegenüber meiner Tochter nicht zu vernachlässigen. Sonst ist sie dem ganzen Unterricht wahrscheinlich nicht gewachsen.
Jetzt hat der Pfarrreferent das Wort. Er fischt aus der Schultüte einen Bleistift, auf dem ein Plastikhase in Frack und Zylinder befestigt ist. Schon klar, das ist die Büchse der Pandora, die hier ihr Medusenhaupt erhebt. Und mit dem Stift »könnt ihr ein Bild malen, wovor man Angst hat«. Gebt mir diesen Stift, ich mal es euch gleich auf, aber ich brauche ein großes, ein verdammt großes Blatt. Der Pfarrreferent holt eine Schachtel ans Licht und entnimmt ihr »ein Zeichen für Gemeinschaft. Es ist eigentlich keine Kette, aber ich nehm das einfach mal als Kette. Wenn ihr alle zusammensteht, dann ...«, ja dann könnt ihr euch vielleicht sogar vor derartig windschiefen Vergleichen schützen. Es ist nämlich wirklich keine Kette, sondern eine regenbogenfarbige Spirale. Die Spirale der Gewalt.
»Die könnt ihr auf den Schreibtisch stellen oder damit spielen.« So hofft man also von religiöser und pädagogischer Warte mit den drängenden Problemen der Gegenwart fertigzuwerden. Frau Pastorin, was sagen Sie dazu? »Hier haben wir noch Schnellhefter, damit ihr den Überblick behaltet, Dinge sortieren könnt, schöne Dinge abheften.« Eine Schublade passt zum Glück nicht in eine Schultüte, aber die lauert bestimmt schon in der Klasse, um mein kleines Mädchen hineinzustecken.
Seit meiner Einschulung hat sich auf pädagogischem Gebiet einiges getan. Wir haben uns damals an schönen Dingen einfach nur erfreut oder ergötzt, heute muss man sie also abheften. Eine weiße Kerze ist auch noch im Angebot, die sorgt für »Licht, Wärme, Freude« und das nennt man dann später vorsätzliche Brandstiftung, und da kann einem Gott nicht helfen und die Haftpflichtversicherung schon gar nicht, weil der Schaden zwei Millionen Euro weit übersteigt. Ich werde mit meiner Tochter lange reden müssen, um eine Erklärung für all diese Dinge zu finden, es muss ja nicht gerade die plausibelste sein.
Dann sollen die Kinder alle nach vorne kommen, auf dass sie gesegnet werden. Vierundsechzig Jungen und Mädchen knäulen sich vor dem Altar und etwa ebenso viele Väter drängeln sich dahinter, um diese Szene auf Video, Digitalfilm oder sonstigen Bildträgern festzuhalten. Es blitzt und surrt, während meine Tochter sich langsam zur segnenden Hand vorarbeitet. Wie können sich Väter nur derartig gehen lassen? Ich bleibe auf meinem Platz und versuche den weihevollen Augenblick fest in meinem Herzen festzuhalten. Mit meiner Spiegelreflex ohne Blitz und dem 100-Asa-Film hätte fotografieren sowieso keinen Zweck.
Eine halbe Stunde später finden sich alle Beteiligten in der Turnhalle wieder, wo die Direktorin die Lehrerinnen vorstellt und Zweit- und Viertklässler lustige Lieder singen, die meinem Mädchen die Angst vor der Schule nehmen sollen. Meine Tochter hatte aber gar keine Angst vor der Schule, doch jetzt sehe ich, wie sie wirklich unruhig wird. Allzu dick wird die Fröhlichkeit hier aufgetragen, das spüren Kinder. Jedenfalls meins. Nach dem Singen darf gespielt werden, besser gesagt, es muss gespielt werden. Jedes neue Schulkind bekommt eine Kette (!) mit vier verschiedenfarbigen Zetteln um den Hals. Wenn ein Spiel absolviert wurde, wird ein Zettel abgerissen, und nur wer keinen Zettel mehr hat, darf dann hoch in seine neue Klasse. Meine Tochter will nicht spielen. Braves Mädchen! »Du musst auch nicht, schau einfach mal zu.« Das wäre der geeignete Moment gewesen, um einfach abzuhauen. Solange sie nur einen Zettel gehabt hätte,
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