Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
hätte sie ja nicht in die Klasse gedurft.
Natürlich bleiben wir, weil ja auch noch zwei Großmütter und ein Großvater anwesend sind, und irgendwann kriecht sie dann doch unter einer Bank durch, springt über einen Kasten, wirft einen kleinen Ball durch einen riesigen Reifen und schneidet mit einer Schere eine Schere von einem Faden ab. Damit sollte wohl ihre surreale Wahrnehmung gefördert werden. Die vier Zettel waren endgültig weg und meine Tochter unterrichtsberechtigt. In ihrer ersten Stunde lernt sie, wo links und rechts ist. Das war zu meiner Zeit jedem Kleinkind klar. Links waren die Sozis und rechts die CDU, aber heute ist das wohl wirklich erklärungsbedürftig.
Der Einschulungstag ist vorüber, meine Tochter ist mir schon ein wenig entfremdet worden. War die ganze aufopferungsvolle Erziehung tatsächlich umsonst? Ich habe sie immer nur »Sendung mit der Maus« gucken lassen und nie den »Tigerentenclub«, um ihre zarte Seele nicht zu brüskieren, aber ihre Fibel wird ausschließlich von Janoschfiguren bevölkert und ihr Bruder findet kurz darauf auf einem Feldweg tatsächlich eine »Tigerente« aus Holz. Es gibt kein Entrinnen. Das wird mir vollends beim ersten Elternabend bewusst, der zwei Tage später stattfindet. Die Lehrerin hat uns zusammengerufen, um die »Materialliste« zu erläutern. »Sechs dünne Buntstifte (blau, rot, gelb, grün, orange und braun), Malblock (kein Zeichenblock!), ein zweites Rechenheft Nr. 7, noch drei Kartonschnellhefter DIN A4 (lila, gelb, weiß), Becher mit Namen, 2 kleine Fotos, 1 Fara-und-Fu-Sachheft, 1 Elbi-Zahlenheft, 1 Landré-Schreiblernheft, 1 Landré-Schreibheft, 1 Wortschatzheft, 1 Wochenplanheft.«
Bin ich dafür 1968 auf die Straße gegangen oder habe anderen zumindest wohlwollend beim auf die Straße gehen zugeschaut, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen? Eine wunderbare Welt, die ich mir dann von meiner Tochter eigentlich sofort leihen wollte, aber dieses Schnellhefter-Universum, das kann sie behalten. Ich will nicht, dass meine Tochter einfach gepierct und abgeheftet wird. Ich will eigentlich nur, dass mein Mädchen lesen, schreiben und rechnen lernt. Aber wie soll sie das machen? Mit dem »Landré-Schreiblernheft« oder dem »Landré-Schreibheft« mit dem »Rechenheft Nr. 7« oder dem »Elbi-Zahlenheft«? Wie soll ich meiner Tochter helfen, sich in dieser Wahnsinnswelt zurechtzufinden, wenn ich nicht mal weiß, wer »Fara und Fu« sind. Jetzt begreife ich endgültig, dass am Doping wohl kein Weg mehr vorbeiführt. Anders schaffen wir das beide nicht. Aber wer besorgt uns das Zeug? Fara und Fu?
So fragte ich im Jahre 1997, und heute sind Fara und Fu längst ausgemustert und die Tochter hat den pickligen jungen Mann getroffen und der war nicht mal picklig und hatte sogar einen Plattenspieler. Bei der Weisheitszahn-OP hat sich herausgestellt, dass sie immer noch einen Milchzahn hat. Ein kleines Stück Kindheit wird sie noch ein paar Jahre begleiten, und wenn sie den gut pflegt, hält der sogar Jahrzehnte.
2010
Dezember
Problemtuben
Wo wir gerade von Zahnpflege sprechen. Die Hersteller von Zahnpastatuben tragen eine große Verantwortung, denn ihre Produkte nimmt der Mensch in seinen schwächsten Stunden zur Hand und ist ihnen deshalb in besonderer Weise ausgeliefert. Die Tube hält man zumeist kurz vor dem Einschlafen und kurz nach dem Aufwachen in der Hand. Es sind die Momente kurz vor einsetzender oder abklingender Bewusstlosigkeit. Seele und Verstand schlafen schon oder noch, aber die Augen sind bereits offen und nehmen Botschaften wie diese wahr: »Tube auf den Kopf stellen.« Das liest man mit einiger Überraschung, aber man denkt, dass die sich im Zahnpastawerk wohl etwas dabei gedacht haben. Und glücklicherweise steht man ja auch direkt vor dem Spiegel. Eigentlich denkt man so gut wie gar nichts, sondern stellt sich die Tube auf den Kopf. Gar nicht so einfach am frühen Morgen und erst recht nicht am späten Abend. Hat man aber erst mal damit angefangen, ist der Ehrgeiz geweckt, dann versucht man den Kopf so in Position zu bringen, dass die Tube ruhig darauf stehen bleibt. Eine artistische Leistung. Man kann das nur schaffen, indem man immer wieder leichte Ausgleichsbewegungen mit dem Kopf ausführt. Jedenfalls ist man ganz schön im Badezimmer unterwegs, damit die Tube auf dem Kopf bleibt. An Zähneputzen ist da kaum zu denken. Ich bezweifle, dass es einen Menschen gibt, der mit auf dem Kopf abgestellter Zahnpastatube seine Zähne putzen
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