Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
Vorhang über ihre Zähne und ließ ihn verwirrt stehen.
Röttgen ging in die Abgeordnetentoilette und betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Gar nicht so übel, was er da sah. »Ein Gesicht, das man sich merken muss, weil man es sonst wieder vergisst«, hatte Sigmar Gabriel mal gesagt, und der ganze Bundestag hatte gewiehert vor Lachen. Er machte ein paar Grimassen, streckte die Zunge raus, und nach etwa zehn Sekunden zeigte sein Spiegelbild auch die Zunge. Was war mit dem verdammten Spiegel los? Er hauchte auf das Glas. »Lass den Blödsinn«, sagte der Spiegel, und erst jetzt merkte Röttgen, dass Pofalla vor ihm stand.
Mein Gott, diese Köhler hatte ihn völlig aus dem Gleis geworfen. Er stammelte eine Entschuldigung und verließ eilig die Waschräume. Den ganzen Tag hatte er überlegt, wie er es einrichten könnte, dass Kristina, also Frau Köhler, und er, also, wie er an die Köhler rankommen könnte, und da war ihm das Krippenspiel eingefallen. Ein Kabinettskrippenspiel, eine stimmungsvolle Sache, die aber auch für einen größeren Zusammenhalt sorgte. Er hatte die Idee Bernd Neumann vorgetragen, und der sagte sofort seine Unterstützung zu. »Großartige Idee, Rüttgers«, hatte er gesagt, »bin dabei, hab als Kind schon mal einen erstklassigen Josef gegeben«, und da dämmerte Röttgen, welche Komplikationen es geben könnte. Sein Plan war ihm dabei ganz einfach vorgekommen. Er wollte nämlich den Josef spielen und die Köhler sollte die Maria sein. Er sah schon lange, intensive Proben vor sich, bis zur Erschöpfung gingen sie ihre Rollen durch, und irgendwann kam dann der Moment, wo er ihr erklärt hätte, Maria und Josef seien schließlich Mann und Frau gewesen und das müsse man auch in so einem Krippenspiel irgendwie rüber bringen, der Zuschauer müsse spüren, dass da was läuft zwischen den beiden, die Erotik der Weihnachtsnacht, Kristina, darum geht es doch. Und dann wäre es soweit. Sie würde den Vorhang aufziehen und ihre Zähne auftreten lassen und alles Weitere würde sich wie von selbst ergeben.
Die anderen waren allerdings nicht sofort begeistert. Merkels Mundwinkel sanken fast auf Schulterhöhe herab. Schäuble sah etwas angefressen aus und fragte, welche Rolle er denn da wohl spielen sollte, und Westerwelle hatte von hinten gerufen »den Esel«, und da war die Stimmung auf den Nullpunkt gesunken.
Es sah plötzlich schlecht aus für Röttgens Christgeburtsspiel, doch zwei Tage später war zu Guttenberg auf den Plan getreten, man hatte ihn wie immer zu spät und unzureichend informiert, aber nun bezog er sofort Stellung. Eine hervorragende Initiative sei das, von ihm, Röttgen, ganz wichtig für das Image der Regierung, der human factor usw. Jedenfalls kannte zu Guttenberg da jemand beim Fernsehen, und das wäre ein ungeheurer Imagegewinn, wenn man da etwas berichten würde. Vielleicht könnte man sogar nach Kundus fliegen und vor der Truppe ein Gastspiel geben. Und damit war die Sache so gut wie gebongt. Guttenberg hatte darauf bestanden, dass er, Röttgen, den Regisseur machen sollte, weil er schließlich die Idee gehabt hatte, und Röttgen hielt das für keine schlechte Idee, denn dann war er auch für die Besetzung zuständig.
Die erwies sich aber als knifflig. Sowohl Merkel als auch Schavan und von der Leyen wollten die Maria spielen. Da war Regisseur Röttgen gefragt. Schavan sei Brillenträgerin, das ginge nicht, die Bundeskanzlerin sei protestantisch und Frau von der Leyen habe, das wisse jeder, sieben Kinder, da könne man dem Publikum die Sache mit der unbefleckten Empfängnis schwer vermitteln, und gerade als Leutheuser-Schnarrenberger ihren juristischen Anspruch auf die Rolle durchsetzen wollte, sagte jemand: »Die Kristina wäre doch ideal, sie ist jung, unverheiratet, kinderlos und sähe sicher hinreißend aus.« Alle blickten zu Dirk Niebel, von dem dieser Vorschlag stammte und dem Röttgen 300 Euro für seinen Auftritt versprochen hatte. …
Hier brechen meine Aufzeichnungen ab...
2011
JANUAR
... dafür brach neues Jahr an und noch eins und da wollte die »Welt« von mir einen Rückblick auf genau dieses Jahr, das ja gerade erst angefangen hatte. Ich entledigte mich der Aufgabe elegant und nicht ganz unprophetisch:
Januar war ein gutes Jahr. Wir hatten ja kein anderes. Schon Anfang Januar erklärte Karl Theodor zu Guttenberg seinen Rückzug aus der Politik. Er ist enttäuscht. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass so viele Menschen auf einen wie ihn
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