Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Tagebuch eines Tagebuchschreibers
Eitelkeiten? Wurden ausnahmsweise einfach nicht entlarvt. Nirgendwo. Der ultimative Bestseller hieß »Deutschland schafft sich biss zum Morgengrauen ab«. Nr. 1 in der Sachbuch- und Belletristikbestsellerliste. Wird demnächst verfilmt mit Till Schweiger als Morgengrauen und Moritz Bleibtreu als Schuft, äh, Schafft.
November: Der Winter war natürlich hart. Der härteste Winter des Jahres. Da fielen die Thermometer nur so und hunderte von Menschen wurden von herabstürzenden Quecksilbersäulen erschlagen. Streusalz ist in ausreichender Menge vorhanden, aber damit die Zeitungen etwas zu schreiben haben, wird so getan, als gebe es schon Ende Oktober keins mehr. Auf den Flughäfen fehlt aber wirklich mal wieder das Enteisungsmittel, weil das mit der Bahn transportiert wird. 2011 war es so schweinekalt, dass die Sau, die man eigentlich durchs Dorf treiben wollte, erfroren ist.
Wolfgang und Jette Joop kamen das ganze Jahr einfach nicht vor, obwohl Passanten gehört haben wollen, wie in Joops Villa ein Sack Reis umfiel. Gerüchten zufolge soll der Sack Thilo Sarrazin geheißen haben.
Dezember: Johannes Joop Heesters wurde 108 und keiner hat es ihm gesagt. Alle fragten sich: Wer wird zum »Wirbellosen Tier des Jahres« gewählt? Westerwelle wurde es dann doch nicht, weil der einfach zu viel Wirbel macht. Außerdem wollte ihm keiner den Triumph gönnen, dass er mal eine Wahl gewinnt. Es siegte wie 2003 der Steinmeier, bzw. der Steinkriecher.
Silvester: Die deutsche Sektion der Weltlesehungerhilfe gibt ein neues Motto aus: »Brod statt Böll«.
Der Rauswurf
Das neue Jahr war noch keine 72 Stunden alt, da verlor ich die Nerven und warf ihn raus. Ich packte ihn ziemlich weit oben mit festem Griff, öffnete die Balkontür, und weil er sich verständlicherweise sträubte, beförderte ich ihn mit einem Fußtritt durch die Tür bis in den Garten, wo er reglos liegenblieb. Er machte keinen guten Eindruck, die Nachbarn gucken misstrauisch und Passanten zeigen mit Fingern auf den starren Körper. Aber ich kann ihn da jetzt nicht wegschaffen und an die Straße schleifen, die Müllabfuhr holt bei uns diesmal erst am 17. Januar die toten Weihnachtsbäume ab.
Viele Jahre führte ich ein zufriedenes, baumloses Leben. Meine Mutter und ich hatten einige Weihnachten lang die elektrische Lichterkette einfach auf den Boden gelegt und uns den Baum dazu gedacht. Kam billiger und sah nach einer Kunstinstallation aus. Die Lichterkette auf dem Boden war mein Protest gegen die ganze Konsumscheiße. Ich ließ mir die Haare lang wachsen und den Weihnachtsbaum weg. Irgendwann verzichteten wir sogar auf die Lichterkette, ich nahm nur noch den Umschlag mit dem Geld entgegen und überreichte meiner Mutter den obligatorischen Kriminalroman.
Weihnachten war eigentlich aus meinem Leben verschwunden, da wurde ich Vater eines Sohnes. Ich wusste nicht viel vom Vatersein, aber ich begriff: Das Kind braucht einen Baum. Das fühlte ich instinktiv. So wie bei der Mutter die Milch einschießt, erwacht im Vater der Baumkauftrieb. Das Kind war an seinem ersten Weihnachten sieben Monate alt und konnte kein Wort sprechen. Ich trug es auf den Armen und zeigte ihm den Baum, der auf einem Stuhl im Laufstall des Sohnes stand.
Zu Recht beklagt man heutzutage das Fehlen von Werten, Normen und Ritualen. Schon im Kindergarten erfahren die Kleinen, dass die Eltern die Geschenke bringen und dass es keinen Weihnachtsmann gibt.
Ich aber glaube bis heute an das Christkind. Es muss einfach eine höhere, gewaltige Macht geben, die mich Jahr für Jahr in den Bescherungs- und Baumbeschaffungswahnsinn treibt. Mein Sohn ist inzwischen 22, ich habe also 23 Bäume beschafft. Einmal wartete ich zu lange, die Forstämter hatten geschlossen, die dänischen Weihnachtsbaumlager waren ausgeräumt und ich fuhr schweißgebadet mit meiner Tochter durch den Taunus, auf der Jagd nach dem letzten Baum. Wir zogen schließlich einen aus dem Graben neben dem Oberurseler Forsthaus. Es war das klassische hässliche Bäumchen, das keiner haben will und dann zu Weihnachten seinen großen Auftritt hat.
Kein Mensch kann richtiges Weihnachten ohne Baum feiern. Ein Baum mit echten Kerzen, roten Kugeln, Strohsternen und ein paar Vögeln vom Waldorfschuladventsbasar in den Zweigen. Lametta nehmen nur Totalversager, damit kann man jeden Baummakel kaschieren. Lametta ist nichts anderes als Weihnachtsbaumverbandszeug.
Spätestens Ende November steigt jedes Jahr mein Adrenalinspiegel und fixe Ideen
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