Aus dem Überall
all der McEvoys der ganzen Welt um den größten Teil ihres natürlichen Lebens betrogen wurden? Mußte man gar damit rechnen, daß die Kinder in den Vier-Personen-Haushalten die Hälfte ihrer Jahre schlafend verbrachten? Die Antwort auf diese Frage konnte nach einer Weile ebenfalls gegeben werden: Nein.
Es dauerte natürlich einige Zeit, bis man sich völlig sicher war. Ein paar Leute hatten schon zu Beginn des Tiefschlafphänomens die Entdeckung gemacht, daß die Schlafenden weniger schnell heranwuchsen und daß weder ihr Haar noch ihre Finger- und Fußnägel im üblichen Rhythmus länger wurden. Selbst kleine Wunden heilten nicht während des Schlafens. Die Mägen älterer Kinder zeugten von noch unverdauter Nahrung, während die Schwangerschaftsmonate tiefschlafender Frauen sich verlängerten. Die Wissenschaftler beobachteten all das, stellten Statistiken auf, redeten sich die Köpfe heiß und kamen schließlich zu dem Ergebnis, daß es unsinnig sei, die Augen vor den Tatsachen noch länger zu verschließen: Die Schläfer alterten offensichtlich während der Schlafperiode nicht. Lediglich die Zeit, die sie wach verbrachten, zählte als Leben.
Das bedeutete – was mit einem Seufzer der Erleichterung aufgenommen wurde –, daß ihr Leben länger währen würde. Jedes Kind mit nur einem Bruder oder einer Schwester würde eine Lebensspanne vor sich haben, die doppelt so hoch war, wie die der Eltern. Und was die Abkömmlinge kinderreicher Familien anbetraf …
Als sich herausstellte, daß jedes ihrer Kinder eine Lebenserwartung von schätzungsweise eintausendfünfhundert Jahren haben würde, waren die McEvoys zwei volle Tage lang erneut die Stars in allen Medien. Schließlich erfuhr man von einer Frau aus Afghanistan, die soeben dem dreißigsten Kind das Leben geschenkt hatte. Die Leute hielten den Atem an und rechneten sich aus, daß jedes einzelne dieser Kinder – vorausgesetzt, alle überlebten – in unzähligen Zwölf-Tage-Rhythmen nicht weniger als dreitausend Jahre lang leben würde.
Die Welt stand auf dem Kopf.
Es ist nicht einfach, sich all das ins Gedächtnis zurückzurufen, was geschah, als die alten Probleme zu den Akten gelegt wurden, weil es ganz plötzlich neue gab und ein Chaos nach dem anderen vor der Tür stand. Die Probleme waren natürlich in jedem Land andere. Während in den vom Hunger bedrohten Ländern sich Millionen junger Münder plötzlich schlossen und nach keiner Nahrung mehr verlangten, wurde die Produktion in allen Bereichen noch weiter gesenkt, weil Kinderarbeit jetzt praktisch unmöglich geworden war. Eine Reihe von Kleinkriegen brach aus, deren Ursachen vor allem auf die Existenz der Schläfer zurückführte. In den industrialisierten Ländern kam es aufgrund der plötzlichen fehlenden Konsumenten zur Großen Schlafdepression, die noch immer anhält, und nach und nach wurde uns bewußt, daß wir einem Nullwachstum in der Bevölkerungszunahme ins Auge zu sehen hatten.
Und hinter den ökonomischen Tatsachen erhoben sich die großen menschlichen Fragen. Wer würde für die riesigen Armeen der Schlafenden sorgen, wenn ihre Eltern alt wurden und starben? Wie konnte man Kinder erziehen, wenn man sie nur in monatlichen Intervallen wach zu Gesicht bekam? Wie würden wir mit Teenagern fertig werden, die dieses Stadium ein Jahrhundert lang innehatten? Unter den Kindern kam es, als sie feststellten, daß sie nur so lange wachblieben wie ihre Geschwister schliefen, zu einer völlig neuen Art von Rivalität, aber zum Glück verstanden die meisten, daß sie sich damit gleichzeitig auch ein verlängertes Leben erkauften. Nahezu alles hat sich unmerklich in dieser Zeit verändert, und sogar die Autoren von Schmalzromanen profitieren davon, indem sie jetzt in der Lage sind, völlig neue Problematiken zu behandeln: Ist ein Mädchen, das nur im Sommer aufwacht, in der Lage, mit einem Jungen glücklich zu werden, der nicht nur während dieser Zeit, sondern auch im Herbst in vollem Wachzustand ist?
Auf der ganzen Welt schließen sich diejenigen Jugendlichen, die zu einer bestimmten Zeit gleichzeitig erwachen, zusammen und werden von anderen ersetzt, sobald sie wieder schlafen gehen. Vielleicht werden sich alternative Kulturen daraus entwickeln, und es ist nicht unmöglich, daß viele Menschen angesichts dieser Erkenntnis, daß es nie wieder möglich sein wird, mehr als ein Kind in wachem Zustand um sich zu haben, darauf verzichten werden, weitere zu bekommen. Die Anzahl derjenigen, denen das egal
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