Aus der Hölle zurück
zum Mittag. Uns wurde aus der Lagerküche ein Kessel Wassersuppe gebracht. Nach der Mittagspause bekamen wir den Befehl, die Karteikarten der registrierten Leute alphabetisch zu ordnen. Später mußten wir die Tische zusammenstellen, und zu Fuß ging es zurück ins Lager zum Appell.
Nachts konnte ich nicht einschlafen. Ständig erschienen mir die Gesichter der Menschen, die niemand zu retten vermochte. Vom Fenster des Blocks aus erblickte ich am Horizont, dort, wo Birkenau lag, einen roten Feuerschein. Dort verbrannte man die Familien der armen Juden aus Holland, die Familien jener, die wir durch die Aufnahme ihrer Personalien ins Lager übernommen hatten. Und wieder bedrängte mich hartnäckig der Gedanke, wann ich an die Reihe kommen werde, wann sie mich verbrennen würden. Schließlich unterbrach der Schlaf meine Überlegungen.
Am nächsten Tag war ich auf ähnliche Weise beschäftigt. Ich trug die Angaben holländischer Juden in Karteikarten ein, und meine ganze Deutschkenntnis beschränkte sich auf die Fragen nach Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, letztem Wohnort und Adresse, an die der Betreffende schreiben wollte. Die Arbeit war nicht schwer, aber in mir bestärkte sich die Überzeugung, daß ich durch den Zufall an diesem makabren Betrug beteiligt war. Die Nummern der Schreiber waren jedoch registriert. Ich konnte mich nicht einfach vor dieser Arbeit drücken.
Am nächsten Tag in Birkenau erfuhr ich bei der Befragung der Neuzugänge, daß ein vor dem Tisch stehender älterer Mann in Będzin geboren war und seit Jahren in Holland gelebt hatte. Als ich aufhörte, ihn auf Deutsch zu befragen, wandte er sich in gebrochenem Polnisch an mich: »Sie sind Pole, nicht wahr?« Ich hob den Kopf und blickte mich rasch, aber vorsichtig um, ob nicht etwa ein SS - Mann in der Nähe war. Als ich mich überzeugt hatte, daß keine Gefahr drohte, antwortete ich: »Ja. Aber worum geht es?« Der Fremde zog heimlich eine kleine Schachtel aus der Tasche und stellte sie auf den Tisch. »Nehmen Sie das mit. Vielleicht nützt es Ihnen mal was. Wenn wir uns im Lager treffen, unterhalten wir uns.« Ich erschrak. Das war schließlich streng verboten. Vorsichtig blickte ich nach rechts und links und steckte die Schachtel blitzschnell ein. Zum Glück standen die SS -Leute etwas weiter weg an den anderen Tischen. »Ich danke Ihnen«, sagte ich. »Aber gehen Sie schon weiter. Ich weiß nicht, ob wir uns im Lager zu sehen bekommen. Hier wird man aus dem nichtigsten Grund umgebracht«, warnte ich den Fremden flüsternd. Der Jude wandte sich ab und meinte leise: »Ja. Das hab ich mir gedacht. Von hier gibt es wohl keinen Ausweg«, nickte er und ging auf die Gruppe zu, die später zur Effektenkammer getrieben wurde. Dort zogen sie ihre Zivilkleidung aus, dort wurden sie desinfiziert und in die gestreifte Kluft gekleidet – für einige Zeit durften sie noch im Lager arbeiten. Kaum einer von ihnen würde länger als sechs Monate am Leben bleiben. Vorwiegend wurden sie im Sonderkommando eingesetzt, d. h. beim Entfernen der Vergasten aus den Bunkern und Gaskammern sowie beim Verbrennen der Leichen in Gruben oder Krematorien.
Nach wie vor nahm ich die Personalien der Neuzugänge auf, aber die Tatsache, daß ich etwas Verbotenes in der Tasche hatte, ließ mir keine Ruhe. Als wir an diesem Tag ins Stammlager zurückkehrten, war ich beim Passieren des Lagertors sehr aufgeregt. Es gab häufig Kontrollen und Leibesvisitationen von Häftlingen. Die kleine Schachtel hatte ich unter dem linken Arm versteckt, den ich mit abgenommener Mütze diensteifrig an den Körper preßte. Erleichtert vernahm ich das »Ab!« aus dem Mund des uns aufmerksam beobachtenden SS -Diensthabenden, der unserer Zehnergruppe erlaubte, das Lager zu betreten. Nachdem ich im Block mein Brot abgeholt hatte, sah ich nach, was die Schachtel des holländischen Juden enthielt. Angeblich sollte es Rasiercreme sein, aber in Wirklichkeit barg die Schachtel, eingewickelt in dünnes Papier, eine wunderschöne Armbanduhr der Marke »Omega«.
Ich war erregt. Die Uhr stellte einen Gegenstand dar, den mit Genehmigung der SS nur ausgewählte prominente Häftlinge im Lager benutzen durften. Wie sollte ich sie verstecken, und wo? Was sollte ich damit machen? Ich überlegte und überlegte, aber mir fiel nichts ein. Ich war ein Häftling, der nichts Verbotenes besaß. Ich hatte kein Taschentuch, kein Taschenmesser, keinen Bleistift oder andere Kleinigkeiten, deretwegen so mancher Lagerkamerad
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