Aus der Hölle zurück
reine Formsache. Der Häftlingsstand mußte einfach stimmen, denn niemand kam aus dem Lager, genauer gesagt aus dem Keller, heraus.
Zur Arbeit begaben sich die Häftlinge durch einen Betongang; über eine Treppe gelangten sie in die Montagehallen oberhalb der Keller. Bei einem Bombenangriff auf die Fabrik hätten die Häftlinge ihr fertiges Grab sicher gehabt. Bei der Arbeit hatten wir zwar ein Dach über dem Kopf, aber der längere Aufenthalt in den stickigen Räumen, in den mit Duraluminstaub geschwängerten Hallen, ohne frische Luft und ohne Sonne wirkte sich sehr nachteilig auf das Aussehen der Häftlinge aus. Die Haut nahm eine gelbliche Farbe an, und die Augen waren durch das Fehlen von Tageslicht und durch das Bemühen, sich auf das grelle Licht der elektrischen Glühbirnen einzustellen, ständig angeschwollen. Zwei Wochen genügten, und unsere Gesichter hatten sich so verändert, daß wir uns manchmal gegenseitig nicht wiedererkannten.
Ich führte Arbeitsgänge bei der Montage von Tragflächen für die ME - 109 aus – ähnlich wie in Leipzig. Obwohl die Arbeit dem Anschein nach nicht besonders schwer war, wurden wir doch zunehmend schwächer. Dazu trug auch die kärgliche Verpflegung bei, denn eine Möglichkeit, zusätzlich etwas zu besorgen, gab es nicht. Die meisten Häftlinge waren Russen, vorwiegend Kriegsgefangene, die man in Konzentrationslager geschickt hatte, oder aber zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Zivilisten. Das Außenkommando zählte etwa 1000 Mann, darunter fast 800 Russen. Der Rest bestand aus Polen, Tschechen und Franzosen.
Unter den Russen freundete ich mich mit dem 18 jährigen Kolja aus der Gegend von Odessa an. Wir kannten uns schon aus Leipzig, und das Schicksal hatte uns gemeinsam in das Kommando Mülsen verschlagen. Wir unterhielten uns über alles, was uns beunruhigte oder mit Hoffnung erfüllte. Verwunderlich war für mich, daß Kolja über ziemlich gute Informationen von der Front, vor allem von der Ostfront, verfügte. Er wußte bestens darüber Bescheid, daß die Deutschen nach dem Rückzug aus Stalingrad immer schwerere Schläge hinnehmen mußten. Manchmal fragte er mich, wieviel Kilometer uns wohl von der Weichsel, von Minsk oder Lwow trennen mochten. Es stellte sich heraus, daß Kolja die Neuigkeiten von seinen Kameraden bekam, die bei einem deutschen Meister in einem Anbau der Montagehalle Radio hörten. Die Russen gehörten schon am längsten zu unserem Kommando und kannten die deutschen Meister ziemlich gut. Vor Nationalsozialisten und Parteigenossen der NSDAP mußte man sich vorsehen. Es gab unter den deutschen Arbeitern aber auch Antifaschisten und anständige Leute, für die auch ein Häftling ein Mensch war. Manchmal halfen sie einigen Häftlingen.
Ich bekam mit, daß die Russen eine von ehemaligen Militärs geleitete Widerstandsgruppe aufstellten. Ich sprach Kolja deswegen an, aber der erklärte mir ohne Umschweife: »Sei vernünftig! Und wenn du dir sonstwas denken kannst, tu so, als ob du überhaupt nichts wüßtest! Das ist besser für alle.« Und ich tat so, als wüßte ich von nichts.
Eines Tages »verschwanden« in der Montagehalle mehrere Dutzend Bauteile, die unbedingt für die Montage der Flügel benötigt wurden. Für die Leitung der Fabrik resultierten daraus viele Schwierigkeiten, weil die Zulieferbetriebe ständig bombardiert wurden. Man vermutete Sabotage, aber das war schwer nachzuweisen, denn die Teile, die die Deutschen so in Aufregung versetzten, befanden sich in einem abgeschlossenen Lager. Häftlinge hatten dort keinen Zutritt, und das Lager stand unter der Aufsicht von zwei NSDAP - Mitgliedern. Es bestand der Verdacht, daß die Schlüssel nachgefeilt worden waren. Die Spannung stieg. Das Untersuchungsverfahren blieb stecken, als die Verhöre und das Verprügeln einer ganzen Reihe von Russen zu keinem Ergebnis führten. Der Lagerkommandant mußte sich mit Rücksicht auf die Direktion der Fabrik zu etwas entschließen. Er befahl also, daß alle Russen so lange nichts zu essen bekommen würden, bis sich die Saboteure meldeten.
Der Befehl des Kommandanten beruhte auf der Absicht, die im Lager bestehende Solidarität zu zerstören und Zwietracht zwischen den Russen einerseits und Polen, Tschechen und Franzosen andererseits zu säen. Das Untersuchungsverfahren konzentrierte sich auf die russischen Gefangenen.
Die Russen waren die Urheber der Niederlagen an der Front, und diejenigen im Lager waren sich wahrscheinlich darüber klar,
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