Aus der Welt
nur wenige Menschen mit einem Harvard-Doktortitel, geschweige denn solche, die eine Veröffentlichung vorzuweisen haben.«
»Es war ein Fachbuch, das niemand gelesen hat.«
»Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel. Es war ein Buch . Es erschien als Hardcover und wurde in renommierten Fachzeitschriften besprochen. Seien Sie nicht so bescheiden! Das ist eine fantastische Leistung! Sie sollten stolz darauf sein.«
Ich erwiderte nichts. Dr. Menzel spähte noch tiefer in mein Auge und fragte: »Wer ist Ihrer Ansicht nach der größte tschechische Schriftsteller?«
»Lebend oder tot?«
»Sagen wir tot, da Kundera den Preis für den besten lebenden Schriftsteller verdient hat.«
»Kafka, nehme ich an.«
»Kafka! Genau! Aber versuchen Sie, nicht zu blinzen, wenn Sie sprechen.«
»Vielleicht sollte ich gar nicht sprechen.«
»Oh, Sie dürfen sprechen … aber nicht den Mund bewegen, da sich dabei automatisch Ihr Auge verzieht. Die Sprache, müssen Sie wissen, ist untrennbar mit dem Gesichtssinn verbunden. Was man sieht, spricht man aus. Und was man ausspricht, hat man gesehen.«
»Außer, man ist blind.«
»Aber auch Blinde sehen mit … wie heißt es bei Shakespeare gleich wieder?«
»Mit ihres Geistes Aug’?«
»Genau. Des Geistes Aug’ sieht alles, auch wenn es nicht alles sehen kann. Was man beim Akt des Sehens wahrnimmt – und was beim Akt der Wahrnehmung gesehen wird … nun, das zählt zu den größten Rätseln der Menschheit überhaupt, finden Sie nicht?«
»Alles ist Wahrnehmung.«
»Stimmt – aber wer kann schon in einen anderen Menschen hineinschauen? Ich schaue tief in Ihre verletzte Hornhaut, und was sehe ich?«
»Schäden?«
»Narben. Schlimme Narben … und die langsame Entstehung von Narbengewebe. Das Auge wird sich daran gewöhnen. Trotzdem ist es so, dass die Linse nachhaltig geschädigt wurde. Sie wird die Welt nie mehr genauso wahrnehmen wie vorher. Weil der Ursprung der Wahrnehmung – der Ursprung des Gesichtssinns – von den ihr zugefügten Schäden völlig verändert wurde.«
»Und was hat das mit Kafka zu tun?«
»Nun, wie lautet der am meisten zitierte Satz Kafkas?«
»›Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt‹?«
Dr. Menzel lachte.
»Wie wär’s mit dem am zweithäufigsten zitierten Satz Kafkas?«
»Sagen Sie ihn mir.«
»›Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von den deinen?‹«
Autsch. Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Und wenn Sie … in dieses beschädigte Auge sehen«, fragte ich, »sieht man dann den Schmerz?«
»Natürlich. Der ›Unfall‹ geschah wegen des Schmerzes. Wegen eines verzweifelten, furchtbaren Schmerzes. So eine Schädigung wird nie mehr weggehen. Das Narbengewebe mag sie verdecken, dafür sorgen, dass sie erträglich wird. Aber ein solches Trauma … Wie soll das verheilen? Danach ist alles anders. Die Wahrnehmung ist unwiderruflich verändert. Die Welt ist ein anderer, hoffnungsloser Ort: unerbittlich, willkürlich, gnadenlos. Und wir können ihr nie mehr vertrauen.«
Das war das erste und einzige Mal, dass Dr. Menzel so mit mir sprach. Da er meinen Widerwillen, über dieses Thema zu reden, spürte, beschränkte er sich bei unseren Gesprächen auf die Gesundheit meines Auges und auf seine wachsende Zuversicht, dass er den Verband bald abnehmen könne. Er begriff, dass ich über das Geschehene nicht sprechen, geschweige denn es literarisch verarbeiten wollte. Also blieb er völlig sachlich, wofür ich ihm dankbar war.
Dr. Ireland blieb auch völlig sachlich. Sie war eine zierliche Frau von Mitte vierzig, mit einer schlanken, sportlichen Figur und langen roten Haaren, die sie in einer sorgfältigen Flechtfrisur trug. Sie war immer chic angezogen, trug schwarze Kostüme und nie den weißen Kittel, den die anderen Ärzte bevorzugten. Nur einmal erwähnte sie, dass wir an derselben Uni studiert hätten, da sie ihr Grundstudium in Harvard absolviert hätte, bevor sie an die Dartmouth Medical School gegangen sei. Anders als Dr. Menzel sprach sie bei ihren »Besuchen«, die sie dem Mountain Falls Regional zweimal in der Woche abstattete, nie über ihr Privatleben. Aber wenn ich über mein aktuelles Befinden reden sollte, konnte sie äußerst hartnäckig sein, obwohl ich es ihr wirklich nicht leicht machte.
Während unserer ersten Sitzung teilte sie mir mit, dass sie mit meinem
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