Aus der Welt
Strickkrawatte. Und nippte an einer kleinen Portion Whiskey.
»Ich wette, das ist Crown Royal«, sagte ich, als er aufstand, um mich zu begrüßen. Er gab mir schüchtern die Hand und rückte mir beim Hinsetzen den Stuhl zurecht.
»Möchtest du auch einen?«
»Ich dachte eher an einen Gin Martini.«
»Ich war mal ein Spezialist für Gin Martinis. Welchen Gin hättest du gern?«
»So wählerisch bin ich nicht.«
»Bombay’s ist der beste.«
Er hob die Hand, und ein Kellner erschien.
»Pur mit Oliven?«, fragte Vern. Ich nickte. Er bestellte den Martini.
»Und du nimmst nichts mehr?«, fragte ich, wohl wissend, dass ich mich damit auf gefährliches Gelände begab.
»Ich darf nicht. Zwei Drinks pro Abend sind mein Limit. Manchmal überschreite ich es, ehrlich gesagt. Aber dann …«
Er hob abwehrend die Hand, als wollte er eine Sintflut eindämmen.
»Warst du bei den Anonymen Alkoholikern?«, fragte ich.
»O ja. Vier Jahre lang. Mein Sponsor ruft mich immer noch regelmäßig an, um zu hören, wie es mir geht. Er missbilligt, dass ich überhaupt trinke. Sie sind ein bisschen fanatisch und jansenistisch, die AA. Aber nachdem ich wegen des Trinkens beinahe meinen Job verloren hätte – und drauf und dran war, Leberzirrhose zu bekommen –, beschloss ich, ihr Gerede von einer Höheren Macht in Kauf zu nehmen. Aber Charlie – mein Sponsor – befürchtet, ich könnte einen Rückfall erleiden, wenn ich jeden Abend zwei Drinks zu mir nehme.«
»Abstinenz wird überschätzt.«
»Ganz meine Meinung – aber nur, wenn man die selbst gesetzten Grenzen nicht überschreitet. So gesehen sind zwei Drinks besser als gar keine Drinks. Aber drei Drinks …«
»Du hast erzählt, dass du damals an der Ostküste Musik unterrichtet hast. Wann war das?«
»Etwa ein Jahr nachdem ich endgültig aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Aber du willst dir bestimmt keine Geschichten aus meinem armseligen Leben anhören …«
»O doch.«
»Weil es so chaotisch ist?«
»Wessen Leben ist das nicht?«
»Stimmt auch wieder.«
»Ich bin nur neugierig.«
»Lass uns zuerst etwas bestellen.«
Er zeigte auf die Speisekarten, die neben uns lagen. Ich schlug meine auf und war entsetzt, als ich sah, dass ein Hauptgericht zwischen 28 und 42 Dollar kostete.
»Wir müssen uns die Rechnung teilen«, sagte ich. »Das ist viel zu teuer.«
»Ich habe gestern einen Scheck von der Gramophone bekommen. Der dürfte für den ganzen Abend reichen, zumal das Pfund nach wie vor zwei kanadische Dollar wert ist.«
»Aber du kannst das Geld bestimmt für etwas Wichtigeres …«
»Das lass mal meine Sorge sein.«
Mein Martini kam. Wir bestellten. Ich nippte und erschauderte genüsslich, als der eiskalte Gin meine Kehle betäubte. Mir gegenüber begann Vern mit seinem Glas Whiskey zu spielen und überlegte bestimmt, ob er noch einen bestellen oder lieber warten sollte, bis das Essen kam.
»Deine Frau … sie hieß Jessica, stimmt’s?«, fragte ich.
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Ja, sie war Oberschwester im Krankenhaus, in dem ich … in das man mich eingewiesen hatte.«
In den nächsten anderthalb Stunden erfuhr ich den zweiten Teil der Lebensgeschichte von Vernon Byrne. Während er erzählte, nahmen die Details vor meinem inneren Auge Gestalt an: der Nervenzusammenbruch in London, einhergehend mit der manischen Phase einer bipolaren Störung; die drei Jahre währende Gefangenschaft in einer Reihe von trostlosen kanadischen Krankenhäusern; die Elektroschocks und Librium-Cocktails, die ihn ruhigstellten, aber auch jeden Ehrgeiz auslöschten, jemals wieder eine Karriere als Konzertpianist anzustreben; der langweilige Musiklehrerjob in einer Kleinstadt; die Krankenschwester, die ihn bemuttern wollte – und dann zur streitsüchtigen Ehefrau wurde; die Tochter, die er anbetete, die aber schon seit frühester Kindheit emotional instabil war; der Alkohol, dem er und seine Frau sich hingaben – und die furchtbaren Auseinandersetzungen im Suff, die zu einem festen Bestandteil ihrer Ehe wurden; seine Frau, die schließlich mit einem Polizisten davonlief und ihre Tochter nie wiedersehen sollte; Vern, der fest entschlossen war, Lois von ihrer Schizophrenie zu heilen, die sie mit elf bekommen hatte; wie diese Dementia praecox (er verwendete den medizinischen Fachbegriff) dazu führte, dass Lois mit einer Schere auf einen Lehrer losging und sich anschließend die Pulsadern aufschnitt, nachdem sie auf dem Polizeirevier, wohin man sie nach ihrem Anfall
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