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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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gebracht hatte, eine Fensterscheibe zertrümmert hatte, mit gerade mal dreizehn Jahren; Vern, dem keine andere Wahl blieb, als sie einweisen zu lassen; sein steigender Alkoholkonsum; sein Sprung aus dem fahrenden Wagen; das Ende seiner Lehrertätigkeit; die erzwungene Rückkehr nach Calgary; seine Mutter, die ihm Halt bot und nicht lockerließ, bis er wieder funktionierte; der von ihr vermittelte Job in der Bibliothek; das langsame Zurückfinden zu einem seelischen Gleichgewicht – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem ihm die Ärzte sagten, dass seine Tochter niemals ein eigenständiges Leben außerhalb der Psychiatrie würde führen können; aber er kam damit zurecht, schaffte es, viermal im Jahr an die Ostküste zu fliegen, um vier Wochenenden mit ihr zu verbringen; das Versprechen am Sterbebett seiner Mutter, wieder Klavier zu spielen …
    Als die Rechnung kam, sah Vern auf die Uhr und sagte, wie leid es ihm täte, so ein schönes Abendessen damit verdorben zu haben, »dass ich nur über mich geredet habe«.
    »Ich wollte deine Geschichte hören«, erwiderte ich, »ganz einfach, weil ich dich interessant finde.«
    Er umklammerte sein mittlerweile leeres Glas Shiraz, das er zum Hauptgericht bestellt hatte.
    »Mich hat schon lange niemand mehr interessant gefunden. Nicht … na ja, zuletzt vielleicht mein Professor am Royal College.«
    »Aber du bist interessant, glaub mir.«
    Die Rechnung kam, und als ich erneut anbot, die Hälfte zu zahlen, sagte er: »Nach allem, was du dir anhören musstest?«
    Dann überquerten wir die Straße und betraten Calgarys sehr geräumige, sehr moderne Konzerthalle. Es war eindeutig ein Riesenevent, denn in der Lobby wimmelte es nur so von Leuten. Alle waren leicht overdressed. Aber so ist das in Städten mit wenig Hochkultur oft, wo die Leute nach dem Cocktailkleid oder dem überkandidelten Designeranzug greifen, sobald sie eine Veranstaltung besuchen, die als E-Kultur gilt. Wir hatten herrliche Plätze (sechste Reihe, fast Mitte), sodass wir einen perfekten Blick auf die Tastatur hatten.
    Dann wurde das Licht gedimmt, die Bühnenbeleuchtung ging an, und Angela Hewitt betrat das Podium. Sie war eine Frau von Anfang fünfzig – nicht im herkömmlichen Sinne schön, aber auf eine Art gut aussehend, die an Simone de Beauvoir erinnerte. Sie trug ein glänzendes königsblaues Kleid. Nachdem sie am Klavier Platz genommen und gewartet hatte, bis die Zuschauer mucksmäuschenstill waren, um dann die Hände zu heben und Bachs Goldberg-Variationen zu spielen, verschwendete ich keinen Gedanken mehr an ihren merkwürdigen Modegeschmack. Und auch nicht daran, dass sie auf der Highschool wahrscheinlich als Streberin gegolten und wenige Fans gehabt hatte. Kaum, dass Hewitt in dieses außergewöhnlich dichte und tiefgründige Bachschen Piano-Universum eingetaucht war, hielt sie mich völlig gefangen. In den nächsten fünfundsiebzig Minuten, in denen sie die vielfachen Variationen dieses beeindruckenden Werks vortrug, erkannte ich darin die gesamte emotionale Bandbreite des Menschen: strenge Innenschau, überschäumender Optimismus, reifliches Nachdenken, nächtliche Verzweiflung, sprudelndes Chaos und die traurige Gewissheit, dass das Leben nichts weiter ist als eine Ansammlung flüchtiger Momente.
    So eine Interpretation hatte ich noch nie gehört. Ich staunte, wie brillant Hewitt die Emotionen und Tempi wechselte und Bachs komplexe, nuancenreiche musikalische Variationen zu einem in sich geschlossenen, stimmigen Ganzen verwob. Während der gesamten eineinviertel Stunden konnte ich die Augen nicht von ihr lassen. Während die letzten Takte der noch einmal wiederholten anfänglichen Aria verklangen und einem schicksalsergebenen, traurigen Schweigen wichen, herrschte ein Augenblick absoluter Stille. Dann explodierte die gesamte Konzerthalle. Im Nu waren alle aufgesprungen und jubelten. Als ich zu Vern hinübersah, konnte ich sehen, dass er weinte.
    Sobald wir die Konzerthalle verlassen hatten, nahm ich Vern am Arm und sagte: »Dafür kann ich dir gar nicht genug danken.«
    Er reagierte mit einem schüchternen Lächeln, einem Kopfnicken und zog seinen Arm etwas zur Seite, um ihn aus meinem Griff zu befreien.
    »Darf ich dich nach Hause fahren?«, fragte er.
    Verns Wagen war ein zehn Jahre alter Toyota Corolla, dessen Farbe sich am besten mit verrosteter Eierschale beschreiben ließ. Auf dem Beifahrersitz stapelten sich CD s, die er hastig auf dem Rücksitz verstaute. Er erkundigte sich

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