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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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der letzten Zählung besaß er 5765 Karten – »das sind in den letzten neunzehn Jahren fast dreihundert Filme im Jahr« –, die jeweils auf der Vorderseite den Filmtitel, den Regisseur, die Hauptdarsteller, den Drehbuchautor und Ähnliches verzeichneten, während die Rückseite seinen persönlichen Kommentar über den Film enthielt, verfasst in einer schmalen Krakelschrift, die nur er entziffern konnte.
    Theo Morgan war in einem nichtssagenden Vorort von Indianapolis aufgewachsen (»das Vanilleeis amerikanischer Städte – sprich farblos«), als Sohn eines Versicherungsangestellten und einer Mutter, die auf dem College ziemlich kreativ gewesen, aber letztlich dem Skript von Sinclair Lewis’ Hauptstraße gefolgt war und getan hatte, was man von ihr erwartete, nämlich »einen Langweiler heiraten und in eine langweilige Provinzstadt im Mittleren Westen ziehen«. Sein Vater, ein ehemaliger Marine-Soldat, predigte die Frohe Botschaft ebenso wie den Patriotismus und war sehr darauf bedacht, Theos aufkommende Filmleidenschaft im Keim zu ersticken.
    »Ich verbrachte meine Freizeit hauptsächlich damit, mich in den Filmclub der Indiana University einzuschleichen und mir dort Filme anzusehen«, erzählte er mir bei unserer zweiten Verabredung. »In der elften Klasse wurde eine große Bergman-Retrospektive gezeigt, und ich musste Dad gestehen, dass ich die Fechtmannschaft geschwänzt hatte, die zweimal die Woche von neunzehn bis einundzwanzig Uhr trainierte. Als er herausfand, dass ich mir stattdessen ›atheistischen europäischen Schund‹ angesehen hatte – genau so lauteten seine Worte –, gab er mir drei Monate Hausarrest, nicht ohne mir einen Magenschwinger zu versetzen und mir auf diese Weise zu verklickern, was passiert, wenn ich nicht pariere. Meine Mom – eine teilnahmslose Bewohnerin des Tals der Puppen – sagte nur: ›Dein Dad will bloß dein Bestes‹, weshalb er mir auch damit drohte, ›meine Visage zu polieren‹ und mich auf die Militärakademie zu schicken, wenn er mich noch einmal dabei ertappte, wie ich mir ›gottlose Filme‹ ansah.«
    Zum Glück war Theo ein schlauer Kopf und besaß in seinem Englischlehrer Mr Turgeon einen mächtigen Verbündeten. Der Lehrer war schwul, hängte das aber nicht an die große Glocke.
    »Er hatte einen Freund – einen Unibibliothekar – und führte ein recht angenehmes Leben, wenn auch in einem »begrenzten Rahmen«, wie er selbst sagte. Neben der klassischen Musik war das Kino seine große Leidenschaft, und obwohl Videos damals erst aufkamen, besaß er eine fantastische Filmbibliothek. Als er entdeckte, dass ich mich fürs Kino begeisterte, lud er mich nach der Schule zu sich nach Hause ein, um mir einen Crashkurs in Filmgeschichte zu geben. Ich meine, der Typ besaß ungefähr dreitausend Videobänder, und ich sah mir von D. W. Griffith über Fritz Lang bis hin zu Billy Wilder so gut wie alles mit ihm an. Natürlich musste ich das vor meinen Eltern geheim halten, und Mr Turgeon schärfte mir mehr als einmal ein, dass er seinen Job los wäre, wenn herauskäme, dass wir uns bei ihm zu Hause Filme ansähen. Und das, obwohl sich der Mann nicht ein einziges Mal an mich heranmachte! Er hatte in mir nur einen Leidensgenossen gefunden. Denn nichts anderes sind Cineasten im Grunde: Leute, die der Realität entfliehen wollen.«
    Theos Vater erfuhr nie etwas von den Nachmittagen bei Mr Turgeon, an denen man Truffaut, Rivette und Carl Theodor Dreyer sah und echten Earl Grey trank, den Mr Turgeon kistenweise von seiner alljährlichen Pilgerfahrt nach London mitbrachte. Aber als Theo wegen seines Besuchs der Bergman-Retrospektive Hausarrest bekam, schüttete er dem einzigen Menschen in ganz Indianapolis, der ihn verstand, sein Herz aus. Turgeon wusste, dass es unter Umständen eine Katastrophe geben konnte, wenn er die Sache bei der Schulleitung ansprach. Also riet er Theo, sich auf den Hosenboden zu setzen und sich in den letzten drei Semestern vor dem College um möglichst gute Noten zu bemühen.
    Theo befolgte seinen Rat. In jenen drei Semestern brachte er nur Bestnoten nach Hause und überraschte sogar seinen Vater durch seinen Fleiß. Auf Turgeons Drängen hin entschied er sich dann für die Columbia University. Theos Dad wollte nichts davon wissen – »nur über meine Leiche ziehst du in diese degenerierte Stadt« – und weigerte sich, die Bewerbungsgebühr von 75 Dollar zu bezahlen. Also kam Turgeon dafür auf und nutzte seine alten Kontakte (er selbst hatte seinen

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