Aus der Welt
zwingen musste, mir mein Entsetzen über sein zwanghaftes Verhalten nicht anmerken zu lassen.
»Du darfst das Manuskript nie mehr anfassen !«, sagte er und lief wie ein Getriebener in seiner Wohnung auf und ab.
»Theo, jetzt reg dich doch nicht so auf, nur weil ich …«
»Jetzt reg dich doch nicht so auf! Du hast ja keine Ahnung! Seit vier Jahren hat dieses Manuskript keine Menschenseele angefasst. Seit vier Jahren!«
»Aber du hast es mir doch selbst gegeben, Theo. Du hast mich gebeten, es zu lesen. Also verstehe ich nicht, warum …«
»Stimmt, du verstehst tatsächlich nicht, was es heißt …«
Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte er nach seiner Lederjacke gegriffen und war verschwunden. Ich wollte ihm schon hinterherlaufen, hielt es aber für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen – zumal ich bei dieser gespenstischen Szene wirklich aus allen Wolken fiel. Ich beschloss auf der Stelle, dass ich ihn noch am selben Abend verlassen würde, wenn er keine Erklärung für diesen zutiefst verstörenden Auftritt haben solllte.
Als er nach einer Stunde noch nicht wieder aufgetaucht war, kritzelte ich eine Nachricht auf einen Zettel:
Ich habe auf Dich gewartet. Ich hoffe, Du hast Dich wieder beruhigt.
Danach ging ich nach Hause.
Zu jenem Zeitpunkt waren wir seit etwa sechs Wochen zusammen, und obwohl wir einige wenige Abende in meiner Wohnung in Somerville verbracht hatten, blieben wir meist in seiner Wohnung in Cambridge. Das war praktischer, da sämtliche Kinos in der Nähe des Harvard Square lagen. Obwohl wir uns zwei bis drei Abende pro Woche sahen, hatten wir uns stillschweigend darauf geeinigt, nie unangemeldet beim anderen aufzutauchen. Bis zu jenem Abend, als es gegen Mitternacht an meiner Tür klingelte. Ich zögerte, bevor ich aufmachte und dachte: Was, wenn die Fassade von Normalität und romantischem Glück heute Abend einen unreparierbaren Riss bekommt und ich von nun an nur noch seine Angst einjagende Fratze sehe, die er bisher geschickt vor mir verborgen hat?
Aber eine andere Stimme sagte: Wenn du ihn jetzt wegen eines kleinen Tobsuchtsanfalls zurückweist, wirst du allein sein. Und du willst nicht wieder alleine sein.
Also öffnete ich die Tür. Da stand er, er sah erschöpft aus, und in seinen Augen spiegelten sich Angst und Scham.
»Das war … furchtbar«, flüsterte er leise. »Ich könnte verstehen, wenn du mir jetzt die Tür vor der Nase zuschlägst. Aber …«
»Ist das dein kleines Geheimnis, das du bisher vor mir geheim halten konntest? Dass du wegen Kleinigkeiten einen Tobsuchtsanfall bekommst?«
»Es tut mir leid. Du ahnst ja nicht, wie leid es mir tut. Darf ich bitte reinkommen?«
Ich zögerte. Er sagte: »Jane, bitte …«
Ich nickte, zum Zeichen, dass er mit nach oben kommen solle. In meinem Wohnzimmer legte er die Arme um mich und sagte, ich sei das Beste, das ihm je passiert sei. Und dass sein letzter »Wutanfall« dieser Art zwei Jahre her wäre. Sollte ihm das noch mal passieren, verstünde er, wenn ich ihn auf der Stelle verließe. Er würde alles tun, um es wiedergutzumachen und …
Obwohl mir seine Bedürftigkeit etwas auf die Nerven ging, fand ich sie gleichzeitig beruhigend. Vielleicht, weil ich ihn damals auch brauchte, das Gefühl haben wollte, begehrt zu werden, wichtig für ihn zu sein. Es ist dieser uralte, endlose Konflikt zwischen unentbehrlich sein wollen und sich gleichzeitig vor der Abhängigkeit des anderen zu fürchten, weil sie Verantwortung mit sich bringt.
Also umarmte ich ihn, sagte ihm, es gäbe nichts mehr dazu zu sagen außer: Lass uns ins Bett gehen.
Und das taten wir auch. Als ich am nächsten Morgen um acht wach wurde, hatte Theo gegen seine Regel verstoßen, niemals vor Mittag aufzustehen, und ein Riesenfrühstück für uns gemacht. Als er wieder mit seiner Zerknirschungsarie anfing, brachte ich ihn mit einem Kuss zum Schweigen.
»Es wird kein zweites Mal geben«, versprach er mir.
»Ich werde dich daran erinnern«, sagte ich.
Ich ging zur Arbeit, fest entschlossen, diesen Vorfall zu vergessen.
Und Theo hielt Wort. Es gab kein zweites Mal in den Monaten nach diesem Vorfall. Nicht, dass er hypervorsichtig in meiner Gegenwart geworden wäre, sich nur noch einwandfrei benahm und mir keine Einblicke in seine schwierige Psyche mehr gewährte. Im Gegenteil: Kurz darauf lebte er wieder wie ein Vampir, schaute sich die ganze Nacht Filme an und stand nie vor Mittag auf. Genauso standhaft weigerte er sich, sein Junkfood aufzugeben. Aber
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