Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
die er jedoch abbricht.
Mit 22 Jahren versucht er, sich das Leben zu nehmen, als er einen Wagen, den er Stunden vorher gestohlen hat, eine Böschung hinunter lenkt. Roman liegt zwei Wochen lang im Koma, wacht wieder auf, wird gesund, zumindest körperlich. Nach wie vor fühlt er sich wie ein Ertrinkender, der im Strudel des Lebens unterzugehen droht. Niemand ist gewillt, ihm einen Rettungsring zuzuwerfen. Sein sozialer Abstieg vollzieht sich rasant, Etappe für Etappe geht es nach unten: Schulversager, Ausbildungsabbrecher, Berufsloser, Arbeitsloser, Obdachloser, Junkie, Gelegenheitsverbrecher, Strafgefangener.
Niemand interessiert sich für ihn. Er interessiert sich für niemanden. Aus diesem Grund gibt er sich häufig unnahbar, aggressiv, egoistisch, rücksichtslos. Das Leben im Männerwohnheim behagt ihm nicht: die häufigen Saufgelage, das stumpfe Gegröle der Betrunkenen, die ständige Langeweile, die zu laute Musik, die Schlägereien, das niveaulose Gerede, die Mäuse im ganzen Haus, der Schimmel an den Wänden seines Zimmers – das Leben ist die Hölle.
Deshalb flüchtet er sich regelmäßig in die Scheinwelt der Horrorfilme. Dort fühlt er sich heimisch, dort kann er sich mit den Protagonisten identifizieren, eine Rolle übernehmen, die ihm im richtigen Leben verwehrt geblieben ist. Am liebsten schaut er sich Filme aus der »Halloween«-Reihe an. Roman besitzt sie alle: die zwei Originalfassungen, die fünf Fortsetzungsversionen, die beiden Neuverfilmungen. Heute hat er sich für »Halloween« aus dem Jahr 2007 entschieden, das Remake des John-Carpenter-Klassikers von 1978.
Die junge Frau liegt auf dem Bett und hört Musik. Sie trägt nur ein blaues Nachthemd und einen Kopfhörer. Langsam öffnet sich die Tür, und der Junge mit der Clownsmaske kommt herein. Die Frau ist durch die Musik abgelenkt und bemerkt nichts. Der Junge bleibt etwa zwei Meter vor dem Bett stehen, verharrt einen Augenblick. Dann zieht er die Maske vom Kopf. Er wirkt traurig, melancholisch.
Vor dem Bett findet der Junge eine Vollmaske aus Latex mit Kopfbehaarung, die er sich überstülpt. Er tritt an das Bett heran und streichelt mit den blutigen Fingern seiner linken Hand über die Oberschenkel der Frau. »Steve, hör auf.« Sie lacht verlegen. »Hör auf.« Die Frau nimmt an, sie werde von ihrem Freund gestreichelt, der vor einigen Minuten das Schlafzimmer verlassen hat und jetzt tot in der Küche liegt.
»Du hattest genug. Hör auf. Hör auf damit.« Die Frau nimmt den Kopfhörer ab. »Michael!« Sie erkennt ihren jüngeren Bruder. »Was zum Teufel machst du hier?« Der Junge schweigt. »Michael!« Sie schlägt ihn. »Michael, sag endlich was!« Noch ein Schlag gegen die Maske. »Was soll die Scheiße! Michael, gib mir eine Antwort!« Unvermittelt sticht der Junge seiner Schwester mit dem Küchenmesser in den Unterleib. Nach einem kurzen Moment des Beobachtens zieht er das Messer aus dem Körper wieder heraus.
Die Schwester mobilisiert ihre letzten Kräfte, steht auf, schleppt sich aus dem Zimmer und taumelt über den Flur, schluchzend. Ihr Nachthemd ist blutgetränkt. Sie tastet sich an der Wand entlang, dann dreht sie sich kurz um. Etwa drei Meter hinter ihr steht Michael. Er hat das blutige Küchenmesser in der rechten Hand und schaut seiner Schwester nach. Dann folgt er ihr.
Als Michael sie erreicht, schneidet er mit dem großen Küchenmesser immer wieder in den Rücken seiner Schwester hinein, die außer sich ist, panisch schreit, wimmert, schreit. Die junge Frau geht schließlich zu Boden, kriecht auf allen vieren, versucht verzweifelt, ihrem Peiniger zu entkommen. Der reagiert aber nicht mehr, sondern beobachtet nur noch stoisch den aussichtslosen Todeskampf seiner Schwester.
Rüdiger ist von diesem Film nicht sonderlich begeistert. Gewalt stößt ihn ab. Er nimmt die rote Dose Tabak zur Hand, die vor ihm auf dem Tisch steht, und dreht sich eine Zigarette. Das Zimmer ist rauchgeschwängert. Roman nimmt einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche. Die beiden Männer sind nicht befreundet, sie finden sich nicht einmal sonderlich sympathisch, aber mit irgendwem muss man sich in der Not abgeben, sonst wäre die Monotonie gar nicht zu ertragen. Und außerdem: Rüdiger ist ein ruhiger, friedlicher und hilfsbereiter Mensch, den Roman für seine Zwecke auszunutzen weiß. Aber Rüdiger fühlt sich von Roman beschützt, wenn es mit anderen Heimbewohnern Ärger gibt. Beide können also voneinander profitieren: eine
Weitere Kostenlose Bücher