Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
Homosexualität verheimlicht er zwar nicht, allerdings geht er damit eher zurückhaltend um. Von einem festen Partner weiß jedenfalls niemand etwas. Der Freundes- und Bekanntenkreis des Getöteten ist schwer zu überblicken. Die Ermittler haben Mühe, alle Personen zu erfassen, die in den nächsten Tagen, Wochen und vielleicht sogar Monaten vorgeladen werden und aussagen sollen, weil sie entweder wichtige Zeugen sind oder als Täter in Betracht kommen können.
Nachdem die örtlichen Medien verbreitet haben, wer »der Tote vom Jachthafen« ist, versammeln sich spontan mehr als hundert Freunde und Studienkollegen des Opfers vor dem Hauptgebäude der Universität, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Kränze werden niedergelegt, Kerzen aufgestellt. Um das beeindruckende Mahnmal aufzubauen, haben sie nicht lange gebraucht. Es besteht aus einer Holzstaffelei, einem Bilderrahmen mit mehreren Farbfotos des Opfers, auf dem Boden stehen 22 Glasgefäße mit brennenden Teelichtern, für jedes Lebensjahr eins. Kaum jemand sagt etwas. Stattdessen Umarmungen, Tränen.
Die Ausgangsposition der Kripo hat sich zwar durch die Identifizierung des Opfers verbessert, doch nach wie vor weiß man nicht, wann und wo Holger Brandt getötet wurde, welchen Verlauf die Tat nahm und warum der so beliebte junge Mann sterben musste. Weil sich auch nach Wochen intensiver Nachforschungen keine heiße Spur auftut, wenden die Ermittler schließlich eine Strategie an, die dem chinesischen General Tan Daoji zugeschrieben wird und schon häufig zum Erfolg geführt hat: auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen. Der Fahndungsdruck wird also weiter erhöht, um den Täter zu verunsichern und zu einem Fehler zu verleiten.
Die von den Ermittlern bewusst forcierte Berichterstattung in den Medien – Bild und andere Boulevardblätter befassen sich nahezu täglich mit diesem spektakulären Fall – animiert eine Vielzahl von Zeugen, sich zu melden. Dabei kommt heraus, dass Holger Brandt auch intensive Kontakte über das Internet pflegte. Der junge Mann besuchte regelmäßig verschiedene Fachforen und tauschte sich dort mit anderen Usern aus, um beispielsweise den Programmiercode für ein Computerspiel entwickeln zu können. Hat Holger Brandt seinen Mörder in diesem Umfeld kennengelernt?
160 Kilometer Luftlinie vom Präsidium entfernt haben die dortigen Ermittlungsbehörden ein sehr ähnliches Problem. In einem See wurden binnen weniger Tage fünf Körperteile einer Frau gefunden, nicht aber den Kopf. Bisher ist es den Fahndern jedoch nicht gelungen, das vermutlich zwischen 45 und 65 Jahre alte Opfer zu identifizieren. Auch die Todesursache ist unbekannt.
Das Tatverhalten lässt in beiden Fällen durchaus Parallelen erkennen. Die Opfer wurden zerstückelt, die Leichenteile in einem Gewässer entsorgt, der Kopf fehlt. Und die Taten haben sich binnen weniger Wochen in demselben Bundesland ereignet. Allerdings wurden der Frau nicht die Fingerkuppen abgetrennt, und die Geschlechtsteile sind vorhanden. Auch fehlen multiple Stichverletzungen. Es spricht also einiges für einen Serientäter, aber ebenso einiges dagegen. Als gesichert gelten darf lediglich die Erkenntnis, dass die Fahnder trotz der vergleichenden Analyse keinen Schritt vorangekommen sind.
94 Tage nach dem grässlichen Fund am Jachthafen kommt wieder Bewegung in die Sache, als sich Marvin Kramer bei der Mordkommission vorstellt. Der 23-jährige Berufsschüler ist ein guter Freund des Getöteten und berichtet, ein gemeinsamer Bekannter sei »plötzlich abgetaucht«, und zwar kurz nachdem auch Holger Brandt nicht mehr zu erreichen war. Der Verschwundene soll Florian Kranz heißen, 20 Jahre alt sein und ebenfalls die Berufsschule besuchen.
»Das ist schon merkwürdig«, erzählt Marvin Kramer, »die kannten sich, haben auch gemeinsam etwas unternommen, und dann verschwinden beide innerhalb von wenigen Tagen.« Überhaupt sei Florian Kranz »ein komischer Typ«, weil er sich in der Schule damit gebrüstet habe, einer Sekte anzugehören, und auch an Opfergaben teilgenommen haben will. Er habe sich sogar das sogenannte Horusauge, das ist ein mythisches, falkenförmiges Symbol für körperliche Unverletzlichkeit, auf dem rechten Arm eingeritzt, sei häufig »schrill« gekleidet gewesen und habe sich der »Demoszene«, einer Gemeinschaft, die sich kreativ mit Computern beschäftigt, verbunden gefühlt. Schließlich erzählt Marvin Kramer noch von einer besonders skurrilen
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