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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Young
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Verkehrsunfall. Schon damals hatte sich der Junge fest eingebildet, dass beide Elternteile ihn ablehnten, und nichts hatte ihn seitdem von dieser Überzeugung abbringen können. Auf Ambers freundliche Zuneigung hatte er zunächst zurückhaltend, dann aber mit Eifer reagiert, und nach Ablauf eines Jahres war er ihr geradezu ergeben.
    “Komm her, setz dich zu mir.” Sie klopfte mit der flachen Hand auf das Sofa und fragte sich, wie es sein konnte, dass Vater und Sohn so wenig gemeinsam hatten. Amber vermochte sich beim besten Willen nicht vorzustellen, dass Deke als Teenager stundenlang allein in seinem Zimmer vor einem Computer sitzen, sich von wenig bekannter Jazzmusik berieseln lassen und dabei im Internet surfen konnte. Oder dass er über dem Problem gebrütet hätte, warum sein Vater ihn buchstäblich ignorierte; Stephen tat dies laufend.
    “Ich habe eben mitgehört”, sagte der Junge und setzte sich. “Du warst so happy über diese Maison Belle-Sache, und er hat’s nicht mal bemerkt. Ich glaube, er hat dir gar nicht zugehört. Ich verstehe nicht, wieso du ihm das durchgehen lässt. Aber sein eigenes Gelaber musst du dir bis zum Erbrechen anhören. Er hätte doch sagen können: ‘Freut mich für dich, Amber, aber nein, er muss die Telefonnummer von irgend’nem Penner suchen.”
    “Er hatte einen schlechten Tag.”
    “Das haben andere auch, trotzdem benehmen sie sich nicht wie er!”
    Sie holte tief und lang Atem. “Nimm es dir nicht so zu Herzen. Ich komme schon klar, auch wenn er mir nicht ständig gratuliert.”
    “Na schön, aber als Ehefrau sollte man das nicht nötig haben.” Stephen drehte und wendete die CD-Box. “Ich kapiere nicht, wieso du ihn auch noch verteidigst. Er hat’s einfach nicht verdient.”
    Sie wandte ihren Blick der hellen Wasseroberfläche des Pools zu, den man vom Wintergarten aus sehen konnte, und dachte an das, was sie Kate gesagt hatte. “Stephen, wenn du meine Gedanken lesen könntest, dann wüsstest du, dass ich ihn nicht verteidige.”
    “Gut zu hören. Immerhin etwas.”
    “Ja, etwas.” Sie legte ihre Hand über die seine, und die CD-Box hörte auf zu rotieren, als er sie ansah. “Denk an die Zeile aus dem Song, Stephen: What goes around, comes around – es kommt, wie es kommen muss. Bis der Kreis sich schließt.”

4. KAPITEL
    V ictoria war immer noch nicht zurück. Kate stieg die Treppe zur Haustür hinauf und blieb einen Moment stehen. Sie hatte das Haus in der Vermilion Lane stets als Eigentum ihrer Mutter angesehen. Das zwei Hektar große Grundstück war zwar von ihrem Vater John vor vierzig Jahren sorgfältig ausgesucht worden, aber die Hand ihrer Mutter spürte man überall, von den Bildern an den Wänden bis hin zu den kostbaren Bodenbelägen und wertvollen Antiquitäten. Ihr Vater war Architekt gewesen, mit Büroräumen im Herzen von New Orleans, aber er hatte nicht mit seiner Familie in der Stadt leben wollen. Und so hatte er in Bayou Blanc ein Haus gebaut nach dem Vorbild der alten Herrenhäuser im Garden District. Erst als sie vierzehn, fünfzehn war, hatte Kate erfahren, dass ihr Vater die Werktage in der Stadt und nur das Wochenende zu Hause in Bayou Blanc verbrachte. Sie besaß lediglich vage, bruchstückhafte Erinnerungen an ihn, wahrscheinlich deshalb, weil sie bei seinem Tod erst sechs war.
    Die außergewöhnliche Stille fiel ihr auf. Kein Vogel flatterte aufgescheucht davon, kein Laub raschelte in den Bäumen. Nicht einmal die Ventilatoren unter dem Vordach waren zu hören. Alles erinnerte sie zu sehr an die stillen Tage ihrer Mädchenzeit. Nebenan, im Haus von Ambers Familie, war es Tag und Nacht hoch hergegangen: Laute Musik dröhnte aus den Lautsprecherboxen, Scharen von jungen Leuten lachten und schwatzten, frisierte Autos röhrten hin und her. Aber nicht bei ihr zu Hause, und heute erst recht nicht. Nichts war zu sehen hinter den hohen Fenstern. Sie schüttelte ihre Melancholie ab und trat ein.
    Der Geruch von Zitronenöl, Kerzen, Teppichspray, Zigaretten – alles war ihr vertraut. Nur das sanfte Schlagen der Kaminuhr auf dem Sims im Wohnzimmer unterbrach die Stille. Ihre Heimkehr in diese einsame Atmosphäre erfüllte sie mit Nostalgie und Schwermut; sie war gerade auf der Treppe nach oben, um ihre Sachen auszupacken, da vernahm sie, wie ihre Mutter durch die Hintertür hereinkam.
    Sie eilte quer durch das Haus und stieß in dem Moment auf Victoria, als diese sich in einen Sessel sinken ließ und ihr Haupt erschöpft gegen die

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