Aus reiner Notwehr
emotionaler Überdosis litt.
“Eigentlich hatte ich an dem Tage damals überhaupt keine Lust”, fuhr Victoria mit leiser Stimme fort. “Aber dein Vater bestand darauf. Ich wollte nicht allein mit ihm sein, deshalb sorgte ich dafür, dass Leo und Caroline mit uns kamen; wir verstanden uns immer gut, sie sollten so etwas wie eine Pufferzone sein zwischen deinem Vater und mir. Außerdem konntest du mit Amber spielen.”
“Warum wolltest du denn mit Vater nicht allein sein?”
“Er war ein schwieriger Mensch.” Victoria seufzte und strich eine Serviette gerade. “Irgendwie erinnert mich Deke Russo an ihn.”
Was? Dieser trunksüchtige, brutale Grobian?
Entgeistert setzte Kate sich zurück auf die Ottomane.
“Nach dem Unfall auf der Yacht machte ich mir furchtbare Vorwürfe. Es wuchs mir alles über den Kopf, und ich hätte mich am liebsten von allem zurückgezogen. Das ging aber nicht. Du hattest keinen Vater, Amber keine Mutter mehr, und sie … ja, irgendwie schien sie mich mehr zu brauchen als du. Du warst selbstständiger, klüger, stärker; das Ganze lief eher unbewusst ab, und so konntet ihr euch zumindest eine Mutter teilen.”
Die Bekenntnisse trafen Kate völlig unvorbereitet, doch sie brachten die plötzliche Lösung zahlreicher Rätsel ihrer Kindheit – Ambers unverkrampftes Verhältnis zu Victoria hatte stets in einem merkwürdigen Gegensatz zur gestörten Mutter-Tochter-Beziehung zwischen ihr selbst und Victoria gestanden. Dieses Element der Gestörtheit empfand sie nun wieder, es machte sie verlegen, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stand auf und begann, die Teesachen aufzuräumen. “Der Unfall war nicht deine Schuld, Mutter.”
“Wirklich nicht?” Ein bitteres Lächeln erschien auf Victorias Lippen. “Ohne meine Einladung wäre Caroline nicht umgekommen; Leos und Ambers Leben hätte sich glücklicher entwickelt, dir wären die Albträume erspart geblieben. Als du klein warst, verfolgten sie dich besonders, wenn du etwas Bedrohliches, Furchterregendes spürtest – als wärest du wieder in Gefahr zu ertrinken.” Sie streichelte Kates Hand. “Vor was ängstigst du dich jetzt, Kate?”
Kate starrte auf die schmale, zerbrechliche Hand über ihrer. Ihre Mutter hatte stets auf gepflegte, elegante Hände und Fingernägel geachtet, Kate dagegen weniger; als Ärztin trug sie ihre Nägel kurz und ohne Nagellack, praktisch eben. Aber als Kind hatte sie ihre Mutter und Amber oft zu den regelmäßigen Maniküreterminen begleitet, und es fiel ihr nun auf, dass sie selbst seit diesem letzten Besuch ihre Hände nicht mehr hatte pflegen lassen.
“Leo hat heute Nacht vom Krankenhaus aus angerufen”, sagte Victoria, als Kate sich anschickte, das Tablett mit den Teesachen nach unten zu bringen. “Er macht sich offenbar Sorgen um dich. Was ist eigentlich passiert, als ihr den Jungen vorfandet?”
Im ersten Augenblick erschien es Kate sinnvoller, ihrer Mutter weitere Sorgen zu ersparen, doch etwas in Victorias Gesicht ließ sie zögern. Sie setzte das Tablett wieder ab und schlang die Arme um den Oberkörper. “Bist du sicher, dass du das heute Nacht noch hören willst?”
“Ich will die ganze Wahrheit erfahren, Kate; wie soll ich dir denn sonst helfen? Und selbst wenn ich es nicht kann, geht es mich trotzdem etwas an, auch wenn du vielleicht glaubst, dass wir auf der Basis von ‘Wie du mir, so ich dir’ verfahren könnten: Einzelheiten meiner Krankheit gegen deinen Entschluss, St. Luke so plötzlich und ohne Erklärung zu verlassen.”
“Ich bin nicht freiwillig aus Boston weggegangen”, gab Kate seufzend nach. “Mir blieb keine andere Wahl.” Als ihre Mutter sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: “Ich fürchte, so, wie die Dinge liegen, werde ich wohl nicht mehr lange als Medizinerin arbeiten. Im St. Luke nicht, und anderswo auch nicht.”
“Das verstehe, wer will! Warum in aller Welt denn nicht?”
“Es handelt sich nicht um ein simples Sabbatjahr, Mutter”, entgegnete Kate und ließ ihre Hand über das noch feuchte Haar gleiten. “Mir wurde unmissverständlich nahegelegt zu gehen. Um genau zu sein: Mein Arbeitsvertrag ist bis auf Weiteres aufgehoben – was immer das auch heißen mag”, fügte sie bitter hinzu. “Seit geraumer Zeit habe ich mit Stress und Angstzuständen zu kämpfen, wahrscheinlich Folgen der Belastung in der Unfallchirurgie, und das hat mehrmals zu emotionalen Reaktionen bei der Behandlung von Patienten geführt, was besonders prekär
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