Aus reiner Notwehr
vorbei.” Victoria erhob sich, schwächer und zerbrechlicher denn je. Doch in ihren Augen glimmte ein Funke, den Kate lange nicht gesehen hatte. “Bring das Tablett nach unten, und dann schlaf dich aus. Am Morgen sieht alles anders aus als mitten in der Nacht.” Sie begab sich zum Bett, legte die beiden Paradekissen auf die Ottomane und schlug die Bettdecke zurück, und es war Kate, als käme ihr das Zimmer plötzlich viel vertrauter vor. Victoria klopfte die Kopfkissen auf, glättete das Laken und schaltete zu guter Letzt die Nachttischlampe an. Zu ihrer Teenagerzeit und auch später, als sie am College studierte und nur am Wochenende oder in den Ferien heimkam, zelebrierte ihre Mutter stets dieses Ritual, aber Kate hatte noch nie dabei zugesehen. Es passierte immer während ihrer Abwesenheit – entweder war sie noch aus oder im Bad, oder sah noch fern, oder hörte noch Musik. Zu Kates weiterer Überraschung kam ihre Mutter nun auf sie zu und umarmte sie, ungeachtet der leise klirrenden Teetassen. “Über deinen Platz in Leos Gemeinschaftspraxis mach dir keine Sorgen”, sagte sie und tätschelte ihr die Wange. “Und wie du diesen Sam Delacourt herumkriegst, das überlasse ich dir selbst.” Obwohl Kate sich in dieser Nacht nach besten Kräften gegen die Albträume zur Wehr setzte, blieb sie nicht von ihnen verschont. Neue, deutlichere Horrorbilder blitzten vor ihren zuckenden Lidern auf: Cody in einer Blutlache, Sams schattenhaftes, ernstes Antlitz. Deke Russo mit gebleckten Zähnen, ein teuflisches Krokodilsgrinsen auf dem Gesicht.
Sie fuhr hoch, wähnte sich so nah am Rande eines Abgrunds, dass es kein Entrinnen gab. Keuchend, die Bettlaken feucht von Angstschweiß, zog sie die Knie an, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Wann würde der Sturz in die Tiefe kommen?
19. KAPITEL
A mber war viel zu aufgekratzt, um schlafen zu können; rauchend ging sie auf und ab und zuckte jedes Mal zusammen, wenn draußen ein Auto vorbeifuhr, da es Deke hätte sein können. Die Uhr schlug zwei Uhr morgens. Es war jetzt über vier Stunden her, seit er vom Krankenhaus aus mit Waylon Escavez zur Polizeihauptwache gefahren war, um dafür zu sorgen, dass die Medien nicht ohne ihn von dem Unfall unterrichtet wurden. Die Morgenausgaben der Zeitungen würden deutlich machen, dass Cody selbst für den Unfall verantwortlich war; schlechte Publicity für sich selbst – etwa durch eine schuldhafte Beteiligung seines Sohnes – würde Deke zu verhindern wissen. Amber drückte die Zigarette aus und sah zum x-ten Mal aus dem Fenster.
Die Lichter der Autos spiegelten sich in der regennassen Fahrbahn, und sie dachte an Nick. Deke hatte dafür gesorgt, dass sie nicht im Krankenhaus blieb; es interessierte ihn nicht im Geringsten, dass es eine Sache der Höflichkeit war, Nick und seinem Sohn Anteilnahme zu zeigen und ein wenig in ihrer Nähe zu verweilen, und er räumte ihr auch nicht die entfernteste Gelegenheit zu einem neuen Techtelmechtel mit ihrer alten Highschool-Liebe ein.
Seufzend lehnte sie ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Das Leben würde so lange unerträglich sein, bis sie und Deke endlich ihr Festivalengagement hinter sich gebracht hatten und nach New Orleans zurückgekehrt waren, denn dort ging die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit Nick gegen null. Sie war versucht, die ganze Chose abzusagen, aber andererseits sehnte sie sich danach, Nick wiederzusehen und ein wenig auf sich aufmerksam zu machen.
Sie hörte Dekes Wagen, bevor sie ihn sah, als er in die Hofeinfahrt bog, vernahm das Schlagen der Autotür und wie er geräuschvoll über den Plattenweg zur Hintertür kam. Seine Augenbrauen hoben sich in gespielter Überraschung, als er sie entdeckte.
“Na, so was! Du wartest noch auf mich, Baby?” Er trug ein frisches Hemd, musste also nach seinem Besuch bei Escavez noch irgendwo gewesen sein, und einen kurzen Moment war sie furchtbar wütend, nicht, weil sie sich über seine Untreue aufgeregt hätte, sondern weil es das Aus bedeutete, wenn die Medien ihn mit einer anderen Frau erwischten, und das würde auch ihr eigenes Image beschädigen.
“Mir ging Stephen nicht aus dem Kopf, und was der Chief wohl unternimmt”, sagte sie gleichmütig. “Alles in Ordnung?”
“Habe ich dir doch gesagt!” Er zog sein Hemd aus der Hose. “Wo ist Junior?”
“Im Bett, schläft hoffentlich. Aber er hat nicht eher Ruhe gegeben, bis er im Krankenhaus anrufen konnte und erfuhr, dass es Cody den Umständen entsprechend
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