Aus reiner Notwehr
wollte, und Kate hatte es aufgegeben, ihr Vorschriften zu machen oder gute Ratschläge zu erteilen. Sie sah ein: Wäre Victoria nicht ihre Mutter, sondern eine beliebige Patientin gewesen – sie hätte ihr gestatten müssen, auf ihre eigene Weise mit dem Leben abzuschließen. Es wäre ihr gar keine andere Wahl geblieben.
“Hi, Victoria.” Ambers Lächeln überdeckte ihren seelischen Zustand nahezu vollkommen. “Kate meint, ich sollte über Nacht bleiben. Ich hoffe, es macht keine Umstände.”
“Ganz und gar nicht. Du kannst im Gästezimmer schlafen.” Victoria nahm auf einem Sessel Platz und schaute die beiden an. “Ihr zwei zieht aber lange Gesichter. Ist etwas?”
Amber breitete die Arme aus und lächelte ungerührt weiter. “Wieso? Muss etwas sein, damit man mal die Nacht bei seiner besten Freundin verbringen kann?” Sie sah zu Kate. “Wie in alten Zeiten, nicht wahr,
chère
? Ein Blick, und bei deiner Mutter geht automatisch das Warnradar an, was? Wir …”
Victoria schloss die Augen und unterbrach sie mit einer Handbewegung. “Wo ist Deke? So, wie ich ihn kenne, geht er davon aus, dass du zu Hause auf ihn wartest.”
Amber ließ sich achtlos auf das Sofa fallen. “Nun, dann erlebt er mal eine kleine Überraschung. Na und? Was soll’s! Ich hole doch nicht für jede Kleinigkeit seine Erlaubnis ein!”
“So? Seit wann denn das?” Victoria wies auf das Telefon. “Du rufst besser bei Leo an und sagst ihm Bescheid. Sonst macht Deke noch Theater, wenn er kommt.”
“Gute Idee”, pflichtete Kate ihr bei. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mutter Ambers Lage weitaus genauer kannte, als alle ahnten.
“Und wenn er mit Gewalt hier bei uns eindringen will”, fügte Victoria hinzu, “benachrichtige ich Nick. Der wird schon mit ihm fertig.”
Kate nahm eine Flasche Rotwein aus dem Regal und richtete sich auf eine lange Nacht ein.
Zu dritt hatten sie gespannt gewartet und damit gerechnet, dass jeden Moment ein rachsüchtiger Deke auftauchen würde, der die Widerspenstigkeit seiner Ehegattin als offene Revolte gegen seine Autorität als Ehemann auffasste und den Kate durchaus zu Schlimmerem für fähig hielt als nur zu Wutausbrüchen und Hasstiraden. Er ließ sich zwar die ganze Nacht nicht blicken, aber Kate mochte dem Frieden nicht recht trauen.
Victoria war die Erste, die sich zurückzog, nachdem sie – nicht ohne Murren – ein leichtes Schlafmittel akzeptierte. Amber, die davon ausging, dass Deke sich auf den Weg nach New Orleans gemacht hatte, entschloss sich, ihrem Kummer mit einer Flasche Wein die Schärfe zu nehmen, und schlief auf dem Sofa ein. So blieb nur Kate übrig, die sich inmitten eines verworrenen Knäuels von Emotionen zu Bett begab. Erneut ging ihr durch den Kopf, dass sie eigentlich nach Bayou Blanc zurückgekehrt war, um nach dem Rückzug aus Boston zur Ruhe zu kommen und zu sich selbst zu finden, dass sie aber statt der erhofften Zuflucht ein Chaos vorgefunden hatte: ihre Mutter unheilbar erkrankt, ihre beste Freundin bis über die Ohren in ehelichen Kalamitäten, ein verflossener Liebhaber, der sich wieder in ihr Leben zu drängen suchte, und dazu die unbarmherzigen Plagegeister ihrer eigenartigen Flashbacks.
Deshalb begegnete sie nun dem herannahenden Morgen mit großer Erleichterung, zog Shorts und ein T-Shirt an und begab sich nach unten. Auf dem Weg zur Küche stellte sie fest, dass Amber das Sofa im Wohnzimmer geräumt hatte, und wunderte sich, dass ihr bei ihrem leichten, unruhigen Schlaf entgangen war, wie sie ihr Zimmer aufsuchte.
Sie füllte die Kaffeemaschine auf, schaltete sie ein und ging nach draußen, um die Zeitung hereinzuholen. Es war ein traumhafter Sommermorgen, sonnig, jedoch noch nicht zu heiß, der Himmel spannte sich in einem glänzenden Blau, und auf den Bäumen zwitscherten und tschilpten Scharen von Vögeln. In der Luft lag der Duft der Süßoliven, den sie tief inhalierte.
Sie sah, wie schräg gegenüber Nick Santana die gleiche Eingebung wie sie gehabt hatte, winkte ihm zu und schlenderte einige Schritte den Bürgersteig entlang. Zwischen Victorias und Leos Grundstücken gab es keinen trennenden Zaun; sie brach eine weiße Gardenie von einem Busch, den ihre Mutter gepflanzt hatte, kostete das Aroma der Blüte und ließ den Blick nostalgisch über die vertrauten Beete und Rasenflächen schweifen. Ihre Träumerei kam zu einem jähen Ende, denn sie erkannte Dekes Mercedes in Leos Einfahrt. Er war also nicht nach New Orleans zurückgekehrt. Um zu
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