Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
schlecht, dass ich Lucienne Telle, eine gute Freundin, bat, mir ein Krankenhaus in der Stadt zu empfehlen. Gleich am nächsten Morgen suchte ich das Amerikanische Hospital auf, wo man mich gründlich untersuchte. Nach den ersten Tests erklärte ich, dass ich gehen müsse, da man mich um zwei Uhr nachmittags zu Dreharbeiten erwarte, doch wurde mir klipp und klar mitgeteilt, dass davon keine Rede sein könne. Die Zahl meiner roten Blutkörperchen sei viel zu gering, und man müsse unbedingt die Ursache dafür feststellen. So blieb mir nichts anderes übrig, als dort zu bleiben und weitere Untersuchungen über mich ergehen zu lassen. Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, besuchte mich Dr. Jean Bernard vom Institut Pasteur. Ich dankte ihm für
seinen Besuch, auch wenn ich darin kein besonders gutes Vorzeichen sah: Dass ein so berühmter Hämatologe und Onkologe an einem Feiertag kam, um nach mir zu sehen, konnte nur bedeuten, dass es mir wirklich schlecht ging. In diesem Augenblick wurde mir meine verzweifelte Lage klar, und ich begann zu vermuten, dass es sich bei meiner Krankheit um Leukämie handeln könnte. Dr. Bernard beschränkte sich darauf, mir mitzuteilen, man müsse weitere Untersuchungen durchführen, bevor man eine endgültige Diagnose stellen könne. Als ich mit ihm allein war, fragte ich ihn offen, ob es sich um Leukämie handele, denn man wollte mir Knochenmark entnehmen, was nur noch wenig Zweifel ließ. Ich erinnerte mich, dass man bei meiner Mutter zwanzig Jahre zuvor ebenfalls das Knochenmark untersucht und dabei den Krebs im Endstadium entdeckt hatte. Der Arzt gab zur Antwort, diese Möglichkeit sei nicht auszuschließen. Daraufhin dachte ich: José, du musst ins Leben zurückkehren, so wie damals, als du im Alter von wenigen Monaten vor dem Haus in Puigcerdà in den Teich gefallen bist und es so ausgesehen hatte, als wäre alles vorbei. Dennoch war ich fast vierzig Jahre später immer noch da und hatte eine unbezwingbare Lust zu leben.
Mit vierzig Jahren befindet sich ein Tenor auf dem Gipfel seines Könnens: Er hat bereits Erfahrungen gesammelt, besitzt aber nach wie vor die ganze Geschmeidigkeit seiner Stimme und ist begeisterungsfähig. José Carreras vollendete sein vierzigstes Lebensjahr als einer der bedeutendsten Tenöre der Welt, der auf den wichtigsten Opernbühnen und Konzertsälen der Welt bejubelt wurde. Er war auf allen fünf Kontinenten zu einer Berühmtheit geworden, und in seinem Terminkalender reihte sich eine Verpflichtung an die andere wie Perlen auf einer Schnur. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1987 war er an der Metropolitan Opera von New York an der Seite von Agnes Baltsa in Bizets Carmen und an der Mailänder Scala zusammen mit Diana Soviero in Der Bajazzo aufgetreten. Darüber hinaus hatte er in der New Yorker Carnegie Hall zwei Konzerte gegeben sowie zusammen mit Kiri Te Kanawa Manon Lescaut , mit Mirella Freni Madame Butterfly und
mit June Anderson Die Jüdin eingespielt. Außerdem hatte er zusammen mit Barbara Hendricks die Musik für die Verfilmung von La Bohème aufgenommen.
Er fühlte sich ein wenig matt, führte das aber auf seine rastlose Tätigkeit in jener herrlichen Phase des Lebens bedeutender Künstler zurück, die sie nötigt, aus dem Koffer zu leben und von einem Flugzeug zum anderen zu hasten, um ein unersättliches Publikum zu befriedigen. Zwar spürte er, dass er sich zu viel zumutete, machte sich aber deswegen keine übermäßigen Sorgen, da man ihn ja erst wenige Wochen zuvor von Kopf bis Fuß untersucht hatte, ohne etwas Beunruhigendes zu entdecken. Doch am 16. Juli, zwei Tage, nachdem ihn Professor Jean Bernard aufgesucht hatte, bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen: Der bedeutende Hämatologe selbst teilte ihm mit, dass er an Leukämie leide, einer Krankheit, über die Carreras so gut wie nichts wusste, die aber sein Leben aufs Höchste gefährdete. Sein Bruder Albert war sofort aus Barcelona nach Paris geflogen, als er erfahren hatte, dass der Aufenthalt im Krankenhaus länger dauern werde. Dieser 16. Juli dehnte sich endlos, und für Carreras war es ein wahres Glück, in dieser bedrückenden Situation den Bruder an seiner Seite zu wissen. Sie hatten einander stets sehr nahegestanden, doch diesmal war die Nähe von besonderer Bedeutung. Die Eröffnung von Professor Bernard hatte José Carreras niedergeschmettert. Allerdings verstand er es durchaus, den Dingen eine positive Seite abzugewinnen, auch wenn Schwierigkeiten
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