Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
neuen Teppich festgeklebt. Kotzflecken vor dem Fernseher, im Eingangsbereich und im Zentrum des Zimmers. Kleine Reste bleiben für die Türschwelle und die mottenzerfressenen Stellen im Stehlampenbereich. Das letzte, sehr kleine Stück reicht noch für die Stelle vor dem Schrank, als ich vor drei Jahren mal Nasenbluten hatte. Gegen zwei Uhr mache ich Feierabend.
Am nächsten Morgen wache ich stolz auf, tapere verschlafen ins Wohnzimmer und erstarre. Dort liegt ein zehn Jahre belaufener Teppich mit etwa zwei Dutzend unterschiedlich großer, brandneuer Füllsel. Das sieht weder praktisch noch künstlerisch noch lustig aus. Es sieht vielmehr zum Kotzen aus. Schlagartig bin ich wach und suche nach der Katze. »Franzi«, sage ich, »in zwei Tagen kommt Mutti zurück. Könntest du nicht in der Zeit auf diese Stellen da göbeln?« Ich zeige auf die sauberen Teppichflecken, aber die Katze will erst mal essen. Vielleicht überlegt sie es sich ja.
Silvester aufm Dorf
»Ich geb Ihnen einen Rat: Bringen Sie Ihren Briefkasten in Sicherheit. Mir ham se in den letzten Jahren schon drei in die Luft gesprengt«, sagt unsere greise Nachbarin in einem unvergleichbaren Akzentgemisch aus Ostpreußisch und Brandenburgisch. Es ist Silvesternachmittag. Vereinzelt detonieren Böller. Ein Nachbar verbrennt sein trockenes Schilf auf dem zugefrorenen Schulzensee. Ich gehe zu unserem neuen, großen, silbernen Briefkasten. Wir haben keinen Gartenzaun. Das Haus ist so gut wie fertig. Aber jetzt ist das Geld alle. Nix mehr da für einen Gartenzaun. Und warum auch? Wir wohnen aufm Dorf. Da wird nicht eingebrochen. Da könnte man immer alle Türen ständig auflassen. Ab und an würde jemand plötzlich in der Küche stehn, »Tach« sagen und mit mir ein Bier oder einen Schnaps trinken wollen, aber Klauen ist hier nicht angesagt. Zumindest was die Altvorderen angeht. Über die Jugend habe ich mir noch keine feste Meinung gebildet. Das könnte schon sein, dass die vor lauter Übermut mir so einen Böller in den Briefkasten werfen. Ohne Sinn und Verstand. Unsereins hat ja auch früher mit dreizehn oder vierzehn dem Nachbarn, wenn er beim Silvester-Fernsehprogramm-Gucken war, so einen Ladycracker auf die Terrasse vor die Wohnzimmerscheibe geschmissen und ist dann schnell hinter einer Fichte in Deckung gegangen. Wir haben keine Terrasse. Das Geld ist alle. Also bleibt der Dorfjugend nur der Briefkasten, um uns zu zeigen, wer den Hammer am Gürtel hängen hat. Ich bin ja selbst aufm Dorf aufgewachsen. Da hat nie jemand rausgekriegt, wer die Knaller vors Wohnzimmer geschmissen hat. In unserer Siedlung standen fünf Jugendliche zur Wahl. Und dazu hätte es auch noch Hucky, der Dorfalkoholiker, sein können. Hier gibt es jede Menge Jugend und auch eine ganze Menge Saufnasen.
Damit der Postbote nicht über eine Sandfläche zu unserem Haus laufen muss, habe ich den Kasten an die Rückwand eines alten Schuhschranks geschraubt und so an die Grundstücksgrenze gestellt. Jeder könnte hier unbemerkt einen Knaller reinschmeißen. Und wenn schon die alte Frau Jürgens mit Anschlägen zu tun hatte, wie soll es dann erst uns als neu Hinzugezogenen ergehen? Wir sind doch ein gefundenes Fressen für die Dorfjugend.
Ich klebe den Briefkastenschlitz mit Kreppband zu. Sabine meint, das kriege ich dann am Neujahrstag gut ab. Ich bin skeptisch, denn das kriegen auch Hinz und Kunz gut ab. Mittlerweile soll es ja Böller geben, die eine Druckwelle erzeugen, die einen, wenn man zwei Meter neben dem Sprengkörper steht, erschüttert. Das würde unser neuer, silberner, verchromter Briefkasten nie aushalten. Aber jetzt ist erst mal Kreppband dran. Das ist ja schon so eine kleine psychologische Barriere. Wenn ich Richter Alexander Hold richtig verstanden habe, ist das dann nicht nur Sachbeschädigung, sondern auch noch Einbruch. In den Briefkasten.
Wieder im Haus. In der Küche steht Bodo, der um die Ecke wohnt. Wir hatten eine Terrassentür aufgelassen. Er sagt, er wolle nicht immer auf meine Kosten trinken, und hat zwei Flaschen Bier dabei. Ich hole eine Flasche Bommerlunder aus der Anrichte und ein bisschen Zeugs zum Knabbern. Bodo sagt, an Silvester sei hier aufm Dorf Vorsicht geboten. Da dürfe man seinen Briefkasten nicht aus den Augen verlieren. Bumms!, sei der weggesprengt. Und das Kreppband wäre da eher noch ein Anreiz. Er bietet mir an, seine Sackkarre zu holen und den Briefkasten mit dem Schuhschrank in den Schuppen zu verfrachten. Nee, sage ich, der Schuppen ist
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