Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
sehr wahrscheinlich ein Poster von Gandhi hängt, dieser Bekannte lehnt es ab, U-Bahn zu fahren, weil die ihm dort begegnenden Aggressionen ihn seinerseits aggressiv machten; und zwar so weit gehend, dass er jederzeit aus der Haut fahren könnte, um jemandem eins in die Fresse zu hauen. Er, ein Tontechniker und Freizeitkabarettist, fährt ausschließlich Auto. Dafür verzichtet er vollständig auf Alkohol. Ich selbst fahre auch ungern U- oder S-Bahn, aber immer noch lieber als mit dem Auto durch ein Straßennetz, das beinahe ausschließlich von Vollidioten, Nichtskönnern und bewusst handelnden Terroristen genutzt wird. Auf der einen Seite Um-die-Kurve-Schnarcher, auf der anderen Rechtsüberholer. Und in Berlin wird das ganze Jahr über durchgängig der Tag des Zweite-Reihe-Parkers begangen. Zweite-Reihe-Parker sind die Pest und müssten jämmerlich umkommen ebenso wie Leute, die noch nie was vom Reißverschlusssystem gehört haben.
Ich muss zu einem Restaurant in der Nähe des S-Bahnhofs Yorckstraße. Ich muss nicht nur, ich will auch. Es ist 19 Uhr, ich bin warm angezogen, habe etwas zum Lesen dabei, die Frisur sitzt, meine Stimmung ist gut. Am U-Bahnhof Bernauer Straße benutze ich nicht den Behindertenlift. Ich benutze nie den Behindertenlift. Treppensteigen ist für mich Körperertüchtigung. Die jungen Leute und die Radfahrer – die benutzen den Behindertenlift. Ich habe an der Bernauer Straße noch nie einen Behinderten am Lift gesehen. Behinderte in meiner Gegend fahren Taxi, Telebus oder bleiben zu Hause. Oder steigen mit ihrer Aluminium-Gehhilfe die Treppen runter, weil sie zu stolz für den Lift sind. Unten am Bahnsteig toben etwa zehn junge Türken herum. Obwohl es keinen Grund gibt, irgendein Nebengeräusch zu übertönen, unterhalten sie sich schreiend. Ich verstehe kein Türkisch, aber es hört sich nicht nach einem Gespräch unter Freunden an. Eine kleine Landsfrau in Lederrock und hohen Stiefeln kommt daher und sagt im Vorübergehen irgendetwas Schnippisches zu ihnen. Drei brüllen ihr etwas hinterher, die anderen schweigen und hantieren an ihren Taschentelefonen und MP3-Playern. Endlich kommt die Bahn Richtung Wittenau, und ich denke, die könnten alle Mann gleich durchfahren bis zur Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik.
U-Bahnhof Gesundbrunnen, mein Bahnhof aus der Weddinger Zeit. Wenn ich hier aussteige, muss ich immer an meine ehemaligen Nachbarn aus der Spanheimstraße denken. Heinz, ein buckliger Frührentner und Alkoholiker, mit dem ich manchen Jägermeister getrunken habe, und Judith, seine Frau, mit zwei kaputten Hüften, zahnlos, aber trotzdem ständig keifend, die mir immer mal wieder sagte, wenn sie doch zwanzig Jahre jünger wäre, dann würde sie aber mit mir Sachen anstellen … Ich war froh, dass sie nicht zwanzig Jahre jünger war. Es sind nur ein paar Hundert Meter. Ich könnte mal gucken, ob sie überhaupt noch leben. Aber jetzt muss ich umsteigen in die S-Bahn Richtung Süden. Im Waggon sitzen bereits zwei gescheiterte Existenzen. Sie sind so blau, dass sie noch nicht mal sitzen können. Aber bei allem Herumgeeiere und allen Versuchen, sich gegenseitig zu stützen, bringen sie es trotzdem fertig, die Bierflaschen aufrecht zu halten und an den Mund zu führen, ohne etwas zu verschütten. Wenn sie auch sonst wohl alles in den Sand gesetzt haben – im Saufen sind sie ganz groß. Jetzt hätte ich auch gern eine Flasche Bier. Zur U-Bahn-Lektüre ein leckeres Wernesgrüner, vielleicht noch einen kleinen Kuemmerling, so quasi als Bild des kultivierten Trinkens gegenüber dem weitestgehend sinnfreien. Aber ich lese alkoholfrei. An der Oranienburger Straße steigt ein Motz- Verkäufer zu, und ich traue meiner Wahrnehmung kaum, als ich sehe, wie einer der Saufnasen dem Obdachlosen eine Münze zusteckt. Eine Zeitung lehnt er allerdings ab. Unter den Linden steigen die beiden unter erheblichen Mühen kurz vor dem Zurückbleiben-Ruf aus, was den angenehmen Nebeneffekt hat, dass eine Traube deutscher Touristen, die eigentlich den Waggon einnehmen wollten, vor dem Elend zurückgeschreckt sind und nun im Nachbarwagen ihre langen Mäntel, Pelzkragen, Kameras und Einkaufstüten Richtung Potsdamer Platz kutschieren lassen. Dort besteigen ein Japaner und eine Japanerin, es mögen auch Chinesen, Koreaner oder Vietnamesen gewesen sein, das Abteil und kichern. Genaugenommen kichert nur sie; er schmunzelt tonlos. Man steckt ja nicht drin, aber ich frage mich, ob der Asiat, wenn er kichert, es ist ja doch ein
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