Ausgebrannt - Eschbach, A: Ausgebrannt - Ausgebrannt
konnte also nicht mehr ganz so jung sein, wie er wirkte.
Auf dem Aktenschrank hinter Murrays Rücken lag ein Baseball, der so abgewetzt war, dass es sich nur um ein Erinnerungsstück handeln konnte, daneben ein dickes Buch, in schwarzes Leder gebunden. Die Bibel? Bestimmt.
Markus schwante Übles.
Murray zog eine Schublade auf, holte etwas heraus und warf es zielsicher vor Markus hin.
Es war eine Visitenkarte. Markus’ Visitenkarte.
»Ich habe nachgesehen«, sagte Murray. »Sie heißen nicht Mark S. Westman .«
Markus schluckte. »Stimmt.« Besser, er legte es darauf an, allen Angriffen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Wieso steht das dann auf Ihren Visitenkarten?«
Ein bisschen kleinlich, das Ganze, oder? Immerhin hatte er bis jetzt keine einzige dieser Karten verwendet. Und es war gut möglich, dass er am Ende der sechs Monate immer noch alle hundert haben würde.
»Das war … wie soll ich sagen? Eine Art Scherz.« Neulich war ihm doch so ein gutes Argument durch den Kopf geschossen, wie war denn das gewesen …? Ah ja. Genau. »Wissen Sie, Sir, als dieses Formular auf meinem Tisch lag, habe ich mich gewundert. Wirklich. Ich habe mich gefragt, wieso um alles in der Welt es nötig sein sollte, so ein Formular auszufüllen. Ich meine, die Firma kennt alle meine Daten. Nicht bloß das: Wir sind eine Firma, die in der Datenverarbeitung tätig ist. In weltweit führender Position. Ich finde, da sollte so etwas nicht vorkommen.« Das klang gut. Noch besser, als er gedacht hatte. Es klang eigentlich sogar richtig plausibel. »Ich wollte austesten, was passiert«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu. »Es hat mich ein bisschen enttäuscht, dass niemand etwas gemerkt hat, das muss ich zugeben.«
»Aber Sie haben sich nicht beschwert.«
»Nein. So wichtig war es mir nicht«, sagte Markus mit aller Beiläufigkeit, die er aufzubringen im Stande war. Und weil es nicht schaden konnte, fügte er hinzu: »In erster Linie bin ich hier, um den Job zu erledigen, den man mir gegeben hat.«
Murray lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander und sah aus, als ließe er sich das alles gründlich durch den Kopf gehen. Markus wartete, gestattete sich aber schon einmal ein leises Aufatmen.
»Ist Ihnen das siebte Gebot geläufig?«, fragte Murray und erklärte, als er Markus’ Gesicht sah: »Ich rede von der Bibel.« Es klang, als müsse er sich den Zusatz du dummer, heidnischer Europäer verkneifen.
Markus beeilte sich zu nicken. »Ja. Klar. Das siebte Gebot.« Himmel, welches war noch mal das siebte Gebot? Nicht töten war das fünfte, wenn er sich recht erinnerte, Gebot Nummer sechs auf jeden Fall – wie für künftige Eselsbrücken gemacht – das mit dem Ehebruch, also musste das siebte … »Dass man nicht lügen soll.«
»›Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten‹«, zitierte Murray. Er hatte etwas von einem Prediger, unbedingt. Auch das noch. »So klingt es ein bisschen anders, nicht wahr? Denken Sie nicht, dass es einen Grund gibt, dass es so formuliert ist?«
»Doch. Ja. Wahrscheinlich schon.«
»Denken Sie, es ist ein gutes Gebot? Ein sinnvolles?«
»Zweifellos.«
»Denken Sie, dass es für jeden Bereich des Lebens gilt? Oder denken Sie, das Geschäftsleben ist davon ausgenommen?«
War das Schweiß, der ihm da auf einmal den Rücken hinunterlief? »Nein. Auf keinen Fall. Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Murray nickte. »Es geht um Vertrauen. Wenn wir einander nicht vertrauen können, zerfällt das menschliche Zusammenleben. Weil Vertrauen die Basis davon ist. Und Lügen zerstören diese Basis.« Er beugte sich vor, mit den raschen, schnellen Bewegungen eines Sportlers, und nahm die Visitenkarte wieder an sich. »Das, Mister Westermann , ist ein ›falsch Zeugnis‹.«
Markus merkte, wie er unwillkürlich den Kopf einzog. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Bibelunterricht im Chefbüro! »Sir, wie gesagt, es war nicht so gemeint …«
»›An ihren Taten sollt ihr sie erkennen‹, spricht der Herr«, unterbrach ihn Murray. Er verstaute das Corpus Delicti wieder in seinem Schreibtisch. »Ich werde Sie im Auge behalten, Markus , und mir selber ein Urteil bilden. Anhand dessen, was Sie tun .« Er nickte. »Das war es, was ich Ihnen sagen wollte.«
Markus verließ das Büro mit dem Gefühl, soeben einen Feind gewonnen zu haben.
Am nächsten Tag passte ihn, als er gerade vom Klo kam, jemand im Gang ab, den er noch nie gesehen hatte, auch
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