Ausgebremst
Löschpulvers vom Boden in den Müllsack gebaggert hatte und ich schon befürchtete, er würde jetzt auch noch das Pulver vom Bett und vom Leichnam Liberantes wegputzen, schrie ihn Bruno Graziano an: «Was machst du denn da?»
«Das siehst du doch», nuschelte der Finne im besten Rosberg-Stil und schaute mich an. Irgendwie war der Finne sich immer zu vornehm, der Person ins Gesicht zu schauen, mit der er gerade sprach. Vielleicht aus reiner Rücksicht, damit man sich nicht selbst in seiner verspiegelten Sonnenbrille sehen mußte.
«Laß das sofort!» brüllte Bruno Graziano, der in seinem Schock zuerst eine Minute lang zugeschaut hatte, wie der Finne den Unfallort veränderte.
«Ich will dir ja nur helfen, den Schweinestall...»
«Du bist wohl verrückt! Da liegt mein toter Cousin, und du glaubst, mich kümmert das Löschpulver?»
«Jaja», murrte der Finne. Er war einer der besten Fanartikelhändler, die ich jemals kennengelernt hatte, aber er konnte manchmal ein ziemliches Arschloch sein.
Er legte die Kehrschaufel dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte, nahm den halbvollen Müllsack und ging damit zu seinem Wohnwagen hinüber.
Noch am selben Tag stellten die Sachverständigen der italienischen Polizei fest, was wir ohnehin alle vermutet hatten.
Liberante war einem Unfall zum Opfer gefallen. Und schuld daran war seine eigene Fahrlässigkeit.
Er hatte sich einen für den öffentlichen Verkehr gar nicht zugelassenen Rennfeuerlöscher in sein Wohnmobil montiert. Nur einen halben Meter von seinem Bett entfernt. Diese automatischen Feuerlöscher waren in den Formel-1-Cockpits installiert, damit sie von selbst losgingen, wenn ein Auto zu brennen anfing. In der ersten Zeit hatten sie allerdings wesentlich mehr Schaden angerichtet, als sie verhindern konnten. Immer wieder waren die Feuerlöscher bei voller Fahrt grundlos explodiert, hatten die Fahrer kurzfristig k. o. geschlagen und so die schrecklichsten Unfälle ausgelöst.
Erst mit der Zeit bekamen die Ingenieure die neue, komplizierte Sicherheitstechnik in den Griff.
«Ich verstehe nicht, daß sich Liberante so ein Ding in seinen Wagen hängen mußte», schüttelte Bruno Graziano immer wieder den Kopf.
Er wußte natürlich so gut wie wir alle, weshalb er es getan hatte. Aus reiner Romantik. Wahrscheinlich hatte er einen Ferrari-Mechaniker jahrelang traktiert, bis der ihm so einen Feuerlöscher schenkte. Liberantes Vertrauen in die Formel 1 war viel zu groß, als daß er sich lange mit der Angst beschäftigt hätte, dieser Feuerlöscher könnte ihn eines Nachts im Schlaf k.o. schlagen und unter einer Löschpulverlawine begraben.
Da die italienische Polizei den Tod Liberantes als Unfall qualifizierte, hatte auch die Spurenverwischung des Finnen keine Konsequenzen. Zumindest keine von den unmittelbaren Konsequenzen, die man befürchten mußte. Wie sollte man zu diesem Zeitpunkt auch befürchten, daß ich deshalb Jahre später im Gefängnis landen würde.
Interviews
Ich wollte den Fahrer nicht ermorden. Er wollte mich ermorden. Ich tötete ihn in Notwehr. Die Sachverständigen des Gerichts behaupteten, ich hätte mehrere Minuten gebraucht, um den Mann mit bloßen Händen zu erwürgen. Ich weiß es nicht. Ich denke nie darüber nach. Ich erlebe beim Einschlafen detailgenau die Sterbeszenen von Rennfahrern, die ich nie persönlich kannte. Aber ich denke kein einziges Mal an den Mann, den ich eigenhändig tötete.
Ich weiß nur, daß auch Sachverständige oft genug irren. Es waren ja auch Sachverständige, die den Tod Liberante Grazianos für einen Unfall hielten.
Trotzdem beantwortete ich geduldig ihre Fragen. Hunderte Interviews, in denen ich immer wieder dasselbe gefragt wurde. Von Sachverständigen, Richtern, Anwälten, Psychiatern. Nie eine originelle Frage. Und immer wieder spulte ich meine Antworten ab: Ja, ich habe ihn getötet, nein, nicht absichtlich, ja, aus Notwehr.
Plötzlich hing sein Kopf schlaff zur Seite. Wie die MarchSchnauze Vittorio Brambillas, als er jubelnd seine Ehrenrunde drehte, nachdem er vor Freude seinen Wagen auf der Ziellinie in die Boxenmauer geknallt hatte.
Das wollten sie nicht hören.
TEXUNO
Das nächste Rennen fand in Barcelona statt. Am Donnerstag vor dem ersten Zeittraining stapfte der Finne mit einem Wäschesack über der Schulter auf mein Wohnmobil zu, in dem ich bei offener Schiebetür gerade ein Sandwich verdrückte.
«Was hältst du davon?» brummte er mich grußlos an, ohne die geringste Andeutung, wovon er
Weitere Kostenlose Bücher