Ausgebremst
die Mauer. Am Sonntag der mißglückte Start. Die Ampel springt auf Rot. Die Motoren heulen bestialisch auf. Längst gehören die überzüchtet wispernden Turbomotoren der Vergangenheit an. Die rote Startampel leuchtet auf, und der gute alte Höllenlärm der Saugmotoren bringt die Zuschauer wieder um den Verstand. Die Betontribünen vibrieren, die Ampel springt auf Grün, der giftige Geruch des verschmorenden Reifengummis verschmilzt mit den Öl- und Benzindämpfen, und der Williams katapultiert Senna aus der Pole Position in Führung. Dahinter Schumacher. Dahinter das Chaos. Ein Rad fliegt durch die Luft und verletzt einen Zuschauer schwer am Kopf. Die Streckenposten winken mit den Flaggen wie bei einem Staatsempfang. Die ersten Runden versanden in einer neutralisierten Phase. Bis die Strecke endlich aufgeräumt ist. Bis das Rennen endlich freigegeben wird. Erste Runde: Senna vor Schumacher. Zweite Runde: Senna vor Schumacher, 1. Mai 1994. Senna jagt vor Schumacher in die Tamburello-Kurve. Tempo 264. Aber nur Schumacher kommt aus der Tamburello-Kurve wieder heraus.
Nach dem Rennen, das Michael Schumacher gewann, saßen Bruno Graziano und ich deprimiert im TEXUNO-Wohnmobil des Finnen.
Es war die größte Katastrophe der Formel-1-Geschichte. Zwei Tote an einem einzigen Grand Prix-Wochenende, nachdem zwölf Jahre lang kein einziger Fahrer gestorben war.
In dieser langen Zeit hatten wir alle aufgehört, mit dem Tod überhaupt noch zu rechnen. Die Sicherheit der Autos hatte immense Fortschritte gemacht. Dank der Sicherheitstanks gehörten Feuerunfälle längst der Vergangenheit an, und die Kohlefaser-Cockpits waren so stabil, daß sie einen Anprall noch bei 300 Stundenkilometern abfangen konnten. Immer wieder war es in den vergangenen Jahren vorgekommen, daß ein Fahrer nach so einem Anprall aus einem scheinbar komplett atomisierten Wagen unverletzt ausgestiegen ist.
Doch kein Fortschritt ohne Preis. Je stabiler das Cockpit, um so direkter greifen die Fliehkräfte auf jenes Material, das schwach genug ist, sich zu verformen.
Schon wenige Stunden nach dem Rennen verbreitete sich in Imola das Gerücht, daß Sennas Körper sich in der Sekunde des Anpralls wie eine Gummipuppe von hundertsiebzig Zentimetern auf zwei Meter dreißig ausgedehnt habe und wieder zusammengeschnalzt sei.
Die italienischen Fans trotteten weinend nach Hause, und ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß auch ich im Wohnmobil des Finnen immer wieder die Tränen hinunterwürgen mußte, meine ersten Tränen, seit Vittorio Brambilla 1975 seinen einzigen Sieg mit einem Totalschaden auf der Ziellinie gefeiert hatte.
«Ausgerechnet Ayrton Senna, der Unverwundbare», murmelte Bruno Graziano.
«Jetzt kann der Deutsche Weltmeister werden», sagte der Finne bitter. Ich glaube, nie in seinem Leben war er über seine Keke-Rosberg-Spiegelbrille so froh wie an diesem Nachmittag.
«Wenigstens sterben jetzt wieder die Fahrer», versuchte ich einen Scherz. «Dann wird es vielleicht für uns wieder sicherer.»
«Täusche dich nicht», wandte sich der Finne an Bruno Graziano, obwohl doch ich es gesagt hatte.
«Du glaubst also auch, daß Sennas Unfall mit Liberantes und Steves Unfällen zusammenhängt», sagte ich.
Bruno und der Finne schauten mich an, als hätten sie Angst, der Schock durch Sennas und Ratzenbergers Tod hätte mich überschnappen lassen.
Zwischendurch fiel mir wieder meine Wut auf den Finnen ein, der zu TEXUNO übergelaufen war, und ich war nahe daran, es ihm unter die Nase zu reiben. Aber es wäre jetzt kleinlich gewesen, wieder damit anzufangen. Schließlich hatte ich eine wesentlich interessantere Neuigkeit für ihn:
«Auch Ayrton Senna ist ermordet worden.»
Bruno Graziano hüpfte richtig von seinem Campingsessel auf, als ich es sagte. Und der Finne drehte seinen Kopf angeekelt auch noch von Bruno Graziano weg.
«Natürlich kann ich es nicht beweisen», sagte ich. «Genausowenig wie Liberante beweisen konnte, daß die Flugzeugabstürze keine Unfälle waren.»
Bruno schaute mich tadelnd an wie ein lästiges Kind und sagte nur: «Verarsch uns ein anderes Mal.»
Ich wandte mich hilfesuchend an den Finnen: «Hast du ihn eingeweiht in die Geheimnisse, die du mir nicht verraten wolltest?»
Der Finne schüttelte den Kopf.
Bruno schaute neugierig.
«Und willst du es immer noch nicht?» fragte ich. «Dann werde eben ich einmal was erzählen», sagte ich, als der Finne nur verstockt dasaß. «Heute ist ein dreifacher Weltmeister verunglückt.
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