Ausgefressen
ich ihm helfen können? War am Ende mein Verschwinden mitverantwortlich für seinen Tod? Hat er vielleicht den Lebensmut verloren, weil er annahm, mich nie wiederzusehen?
Das Summen verstummt, und meine Familie macht Platz für Rocky, der nun langsam und würdevoll vor die Gemeinde tritt.
»Wir alle haben heute einen sehr schmerzlichen Verlust zu beklagen«, beginnt mein großer Bruder, und ich bin sicher, dass dieser Satz nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Ich schätze mal, Rufus hat die Ansprache im Internet gezockt. Egal, die Hauptsache ist ja, dass Pa nicht mit einer peinlichen, selbstgedichteten Trauerrede ins Grab sinken muss.
»Einer, den wir geliebt und geachtet haben, ist mitten im Frühling seines Lebens für immer von uns gegangen«, fährt Rocky fort. Ich wische mir Rotz und Tränen aus dem Gesicht und finde, dass mein Bruder ein bisschen zu dick aufträgt. Pa ist im letzten Jahr fotografiert worden, weil der Zoo mit ihm als ältestem Erdmännchen Deutschlands werben wollte. Ob man da noch vom Frühling des Lebens reden sollte? Richtiger wäre wohl der Ausdruck: Spätwinter. Oder besser noch: später Silvesterabend.
»Er war nicht nur unser Freund«, fährt Rocky fort. »Er war eine Stütze unserer Familie. Ein liebender Sohn und ein von uns allen geliebter Bruder.«
Ich stutze und starre dann entgeistert zum Podium. Was redet Rocky denn da für einen Quatsch? Sohn? Bruder? Schlagartig wird mir schlecht. Ist Rufus etwa was passiert?
Einer Ohnmacht nahe krabbele ich aus meinem Versteck. Nino aus dem vierten Wurf steht zufällig in meiner Nähe.
»Hey!«, flüstere ich. »Wessen Beerdigung ist das hier eigentlich?«
Nino braucht einen Moment, um zu begreifen, wer vor ihm steht. Dann brüllt er wie am Spieß. Als sich daraufhin Angie und Natalie zu uns umdrehen, kreischen auch die, als würden sie einer ausgewachsenen Puffotter gegenüberstehen. Was ist denn hier nur los? Hinter Rocky tauchen nun Ma und Pa auf, um zu sehen, wer für den Lärm in den hinteren Reihen verantwortlich ist.
Eine Pfote legt sich auf meine Schulter, und die vertraute Stimme von Rufus sagt: »Alter Schwede! Bin ich froh, dich zu sehen!«
Da ich mindestens genauso froh darüber bin, meinen ebenso nervigen wie genialen Bruder zu erblicken, sage ich nichts, sondern drücke ihn einfach fest an mich. »Gott sei Dank, du bist am Leben.«
»Gott sei Dank, dass DU am Leben bist«, erwidert Rufus und schlägt sich nervös die Klaue aufs Ohr. »Schließlich ist das hier DEINE Beerdigung.«
Ich löse mich von Rufus und blicke in die fragenden Gesichter meiner Familie. Inzwischen ist es so still geworden, dass ich meinen Herzschlag hören kann. Alle warten darauf, dass ich etwas sage.
»Tja, Leute. Ob ihr es glaubt oder nicht«, beginne ich, »aber das hier ist bei weitem nicht das Abgefahrenste, was mir in den letzten Tagen passiert ist.«
Ich überlege, wie ich fortfahren könnte, ohne den feierlichen Rahmen meiner Beerdigung zu sprengen, als ich unerwartete Hilfe von einer kleinen Göre aus dem fünften Wurf bekomme.
»Was ist dir denn passiert?«, lispelt Marcia mit großen Augen. »Erzählst du es uns, Ray? Bitte, bitte, erzähl es uns!«
Danke fürs Stichwort, Marcia, denke ich und erwidere: »Aber natürlich erzähle ich euch die Geschichte. Und zwar in allen Einzelheiten. Ich muss nur leider noch mal kurz weg. Eigentlich bin ich auch nur vorbeigekommen, um zu sagen, dass ihr euch keine Sorgen um mich machen müsst.«
»Sag uns das beim nächsten Mal ’n bisschen früher«, grunzt Pa sichtlich schlecht gelaunt. »Deine Mutter ist vor Sorge fast krank geworden.«
Ich nicke schuldbewusst und will die Pfote zum Abschied heben, um mich dann elegant aus dem Staub zu machen, da steht bereits Rocky neben mir. »Wir beide müssen erst noch was besprechen. Sofort.«
»Wir sehen uns!«, rufe ich in die Runde. Eigentlich will ich noch fragen, was es denn als Leichenschmaus bei meiner Beerdigung gegeben hätte, aber schon zieht mich mein großer Bruder in den nächsten Gang. Ich schaffe es gerade noch, Rufus zu signalisieren, dass er uns folgen soll.
Wenig später sitzen Rocky, Rufus und ich auf einem Hügel in der Abenddämmerung. Home, sweet home. Es ist auch mal nett, nicht andauernd in Lebensgefahr zu schweben.
Rocky quatscht schon eine ganze Weile. Im Grunde möchte er nur von mir hören, dass ich ihn künftig in sämtliche meiner Aktivitäten einbinden werde. Angeblich geht es ihm ums Prinzip, tatsächlich will er nur
Weitere Kostenlose Bücher