Ausgejodelt: Mira Valensky ermittelt in Wien: Ein Mira-Valensky-Krimi
Leute von der Spurensicherung waren mit einer Reihe merkwürdiger Werkzeuge an der Arbeit. Die Proben sollten um sieben am Abend weitergehen. Ich hatte also drei Stunden Zeit. Ich hatte keine Lust, in die Redaktion zu fahren. Das Magazin würde am Thema dranbleiben, das war nach dem heutigen Mord klar. Und ich hatte den entsprechenden Auftrag des Chefredakteurs in der Tasche. Das Ergebnis meiner Recherche über die Nylonschnur war in allen möglichen Medien zitiert worden. Das hatte ihm gefallen. Unglücklicherweise hatte die Story auch dazu beigetragen, dass Joes Wohnung durchsucht worden war. Doch wie hätte ich das wissen sollen? Hätte ich es gewusst, hätte ich die Story dann anders geschrieben? Oder gar nicht? Unnötig, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte den Artikel geschrieben, und nach journalistischen Kriterien war die Story eine gute Sache gewesen: neu, spannend und sogar wahr.
Auf dem Parkplatz entlang der Schmalseite der Kulturhalle standen bereits zwei große Übertragungswagen des TV-Senders. Sie blitzten in der Sonne. Ein Team war gerade dabei, Kabel ins Innere des Gebäudes zu verlegen. Ein Mann schrie einem anderen etwas zu. Ich war zu weit weg und konnte es nicht verstehen. Das hier war Routine. Beruhigende Routine.
Ich stieg in meinen kleinen Fiat und fuhr los. Ich brauchte Abstand und Zeit, um nachzudenken.
Ich fuhr durch ein Dorf nach dem anderen. Staubige Straßendörfer in der Nachmittagssonne. Wenige Bäume am Straßenrand, verlassene Gehsteige. Von hier kam angeblich die Volksmusik. Vom Land. Ich überholte einen Traktor und hatte Mühe, einem daherbrausenden Lieferwagen gerade noch auszuweichen. Von Idylle keine Spur. Wald und Feld und Kühe und was noch so alles besungen wird, gibt es noch. Aber die paar Kühe, die in dieser Gegend gehalten werden, stehen das ganze Jahr über im Stall und nicht auf einer Wiese. Die Felder bringen so wenig ein, dass die meisten Leute einer zusätzlichen Arbeit nachgehen müssen.
Vielleicht ist das der Grund, warum Volksmusik so populär ist. Ersatz für etwas, das längst verloren ist. Wenn es überhaupt jemals existiert hat. Sehr idyllisch konnte auch früher das Landleben nicht gewesen sein – ohne Traktor und Mähdrescher. Der Rücken musste den Landarbeitern wehgetan haben, und man sang wahrscheinlich nur, um nicht miteinander reden zu müssen. Ich weiß es nicht. Ich habe wenig Beziehung zum Leben außerhalb der Großstadt. Aber ich stelle es mir eher unangenehm vor, einem einzigen Wirtshaus, einem einzigen Lebensmittelhändler, einem einzigen Bäcker ausgeliefert zu sein.
Eine alte Schulfreundin war in diese Gegend gezogen. Ich hatte sie vor einiger Zeit zufällig getroffen, und wir hatten angeregt und lange geplaudert. Die Stadt sei ihr zu unpersönlich, hatte sie erzählt. Sie wolle einen Garten, eigenes Gemüse, echte Nachbarn. Ihr Mann und sie arbeiteten in der Werbebranche. Vor allem sie versuchte, immer mehr Arbeit von daheim aus zu erledigen. Landleben als Gegensatz zur Arbeit in der Stadt. Naja …
Ich rollte in den nächsten Ort, der mit seinem Bach in der Mitte und den Trauerweiden am Ufer ausgesprochen hübsch war. So konnten Dörfer auch vor hundert Jahren ausgesehen haben – abgesehen von den Alufenstern, die da und dort die alten hölzernen Fenster ersetzt hatten.
Vielleicht hatte Siegbert Heinrich doch Recht mit seiner Sorge ums Echte. Nur seine Rechthaberei ging mir auf die Nerven. Eigentlich konnte ich mir schwer vorstellen, dass er der Mörder war.
Ich passierte wieder eine Ortstafel und fuhr an einem flachen großen Gebäude mit einem riesigen Parkplatz rund herum vorbei: „Die Disco“ stand auf einer großen Tafel und darunter, dass hier am Samstagabend die „Miss Dirndl“ gewählt werden würde. Auf mich wirken echte Trachten genauso falsch wie neue modische Trachten.
Volkstümelei, die Österreich zusammenhalten soll. Pseudogemeinschaft. Hochgehalten auch von Politikern mit und ohne Trachtenanzügen. Was nicht „österreichisch“ war, war fremd, wurde zur Bedrohung stilisiert. Damit ließ sich Stimmung machen, damit konnte man die Leute aufhetzen. Immer noch. Der Ausflug in die Welt der volkstümlichen Unterhaltungsmusik hatte meinen Patriotismus nicht eben gestärkt.
Ich hielt am Straßenrand und sah auf die Karte. Ich musste links abbiegen und noch ein paar Kilometer weiterfahren. Dann kam das Dorf, in das meine Freundin gezogen war. Ich hatte beschlossen, sie zu überraschen. Eine Straße Richtung
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