Ausgeliebt
Mein Kalender lag auf dem Tisch.
Ich schlug ihn auf und überflog die Termine der nächsten Woche.
Ich hatte ein eigenartiges Gefühl.
In der ersten Woche besuchte ich früher alle Buchhandlungen in meinem Umkreis. Ich schlief jede Nacht zu Hause. Nach diesem
Heimspiel gingen dann erst die Hotelübernachtungen los.
Die Kunden der folgenden Woche waren dieselben Kunden wie in jeder ersten Woche, es war nur kein Heimspiel mehr. Jetzt musste
ich bei Marleen übernachten.
Als ich die Termine im Januar festlegte, hatte ich noch keine Ahnung, was mir fünf Wochen später passieren sollte.
|94| Ich schlug den Kalender zu und steckte ihn in meine Aktentasche.
Zum ersten Mal würde ich wieder in dem Ort übernachten, aus dem ich Hals über Kopf geflohen war. Marleen hatte mich am letzten
Wochenende besucht. Sie überreichte mir einen Hausschlüssel, um den eine Schleife gewickelt war.
»Ich habe das Gästezimmer renoviert, gelbe Wände, blaues Bett, mit Fernseher und Tisch für deinen Laptop. Du hast also ein
eigenes Zimmer, ein eigenes Bad und jetzt auch einen eigenen Schlüssel. Ich freue mich, dass wir uns regelmäßig sehen. Und
abends setzten wir uns in den Garten und trinken Feierabendsekt.«
Ich verdrängte die Gedanken an Bernd, Antje, meine Katzen, das Haus und die Nachbarn und versuchte Marleens Euphorie zu teilen.
Einen Abend davor waren die Gedanken wieder da.
Ich würde drei Nächte nur zehn Minuten von Bernd entfernt schlafen. Mir wurde ganz flau.
Bevor die Bilder kamen, stand ich auf, holte das Telefon und wählte Luises Nummer.
Wir hatten uns seit dem Abend im »Cox« noch zweimal getroffen. Mittlerweile kannte sie meine Geschichte, auch sie hatte noch
mehr von sich erzählt. Luise hatte mich früher eingeschüchtert. Das war vorbei und sie hielt mich für stark.
»Hallo, Christine.« Sie hatte meine Nummer auf ihrem Display erkannt.
»Hallo, Luise, ich wollte dir einen guten Start wünschen.«
»Den wünsche ich dir auch. Wo fängst du eigentlich an?«
Ich nannte ihr die Orte. Sie lachte.
»Na, klasse, gleich die alte Heimat, dann hast du es hinter dir. Zieh die scharfe Hose an, die du im ›Cox‹ anhattest, und
genieße es als Triumphmarsch. Als Ente gegangen, als Schwan zurück. Das hat doch was.«
|95| So hatte ich es noch nicht gesehen. Sie hielt mich wirklich für stark. Ich wünschte mir, dass ich so wäre.
Wir verabredeten uns für das kommende Wochenende zum Essen.
Ich legte das Telefon zurück, nahm mein Weinglas und setzte mich für eine Zigarettenlänge auf den Balkon. Ich dachte über
das Bild nach, das Luise von mir hatte. Vielleicht hatte sie ja Recht. Mein Leben bekam allmählich Struktur. Man musste nur
den Anfang schaffen, der Rest kam von selbst.
Ich drückte die Zigarette aus, sah auf die Uhr, ging in mein Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Sonntag, 20:15 Uhr. Ich war mir sicher, dass Millionen Singlefrauen ›Tatort‹ sahen und sich dabei die Fußnägel lackierten. So wie ich. Knallrot.
Als ich am nächsten Abend vor Marleens Haus hielt, hatte ich den anstrengendsten Reisetag der letzten Jahre hinter mir.
Es war schwer, sich auf das Verlagsprogramm zu konzentrieren, die Frage nach dem Grund für den Umzug nach Hamburg kam in jeder
Buchhandlung.
Ich antwortete jedes Mal kurz, aber freundlich und versuchte mich mit Luises Augen zu sehen.
Sobald ich im Auto saß, um zur nächsten Buchhandlung zu fahren, kamen die Erinnerungen.
In diesem Café hatte ich mich mit Antje getroffen, da war das Theater, in das ich mit den Kindern zum Weihnachtsmärchen gegangen
war, hier das chinesische Restaurant, wo ich mit Bernd den Kaufvertrag vom Haus gefeiert hatte.
Ich fuhr an meiner alten Autowerkstatt vorbei, am Tierarzt, am Supermarkt.
Die Last der Erinnerungen drückte immer schwerer. Ich brachte den Tag irgendwie hinter mich.
Als mein Auto vor Marleens Haus hielt, spürte ich meine Erschöpfung. Die Tränen saßen dicht hinter den Augen.
Ich biss die Zähne zusammen und stieg aus. Bevor ich den |96| Kofferraum geöffnet hatte, stand Marleen mit zwei gefüllten Gläsern vor mir.
»Wenn man nach dem ersten Tag Champagner trinkt, bringt das für die ganze Tour Glück. Herzlich willkommen.«
Sie reichte mir freudestrahlend ein Glas.
»Schön, dass du da bist.«
Es tat mir gut, so empfangen zu werden. Die Tränen zogen sich zurück.
»Danke, Marleen, das war ein komischer Tag. Das kann nur besser werden. Prost.«
Während
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