Ausgeliebt
Seitenscheiben runter.
|202| Plötzlich hörte ich Reifen quietschen und sah einen Mercedes, dessen Fahrerin schwungvoll einem Kleinbus die Vorfahrt genommen
hatte.
Es war gut gegangen, trotzdem begann ein heftiger Streit zwischen der Fahrerin und ihrem Beifahrer. Er gestikulierte heftig
und sah sie mit wutverzerrtem Gesicht an. Ihre Antwort war ebenso heftig, sie stieg aus, ging um das Auto herum und riss die
Beifahrertür auf. Er sprang aus dem Auto, schob sie schroff beiseite, sie stieg ein, ich konnte ihre zornige laute Stimme
hören.
»Ich habe es satt, ich habe dich unendlich satt.«
Der Mann hatte sich hinter das Steuer gesetzt, ließ den Motor wieder an und fuhr aggressiv los.
Ich schaute dem Mercedes hinterher und überlegte, woher dieser Zorn der beiden aufeinander kam. Warum löste ein solcher Zwischenfall,
bei dem überhaupt nichts passiert war, so viel Wut und Verachtung aus?
Auch ich hatte in meiner Ehe den Zeitpunkt verpasst, an dem aus Liebe erst Gleichgültigkeit und dann Verachtung wurde. Vielleicht
war es mit mir und Richard auch nur so gut, weil es nicht das wirkliche Leben war. Vielleicht machte ich ja schon wieder alles
falsch.
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Ihr redet über alles. Ihr seid ehrlich miteinander. Ihr helft euch gegenseitig. Ihr habt eine starke Erotik und einen offenen
Geist. Das ist Glück. Manchmal klappt das.«
Ich war an der Reihe, stieg aus dem Auto und tankte.
Edith ließ sich davon nicht stören.
»Und wieso stehst du hier allein? Was ist denn daran Glück?«
Charlotte hielt dagegen.
»Besser zeitweise glücklich als dauernd in Gefahr, so verächtlich und wütend angesehen zu werden.«
|203| Ich murmelte diesen Satz vor mich hin, als ich zum Bezahlen in die Tankstelle ging. Der Mann an der Kasse sah mich erstaunt
an. »Bitte?«
»Oh, ich meine, fröhliche Weihnachten.«
Er nickte mir verständnislos zu. »Ja, ebenso.«
Es fing an zu schneien, als ich die Autobahn verließ. Die letzten vierzig Kilometer bis Niebüll gingen über Landstraßen. Im
Radio spielten sie jetzt ›White Christmas‹, der Schneefall wurde stärker, die Straße wurde glatt. Ich musste mich konzentrieren,
hatte keine Zeit für Gedanken und Stimmen.
Schließlich hatte ich die Autoverladung erreicht und fuhr langsam auf den Zug.
Als mein Wagen stand und der Motor aus war, lehnte ich mich erleichtert an die Kopfstütze und schloss die Augen. Ich hasste
es, bei Glatteis zu fahren.
Der Autozug setzte sich langsam in Bewegung.
Edith war sofort da.
»Wenn dir jetzt was passiert wäre, hättest du Richard noch nicht mal erreichen können.«
Charlotte antwortete
. »Bevor du gingst, hat er heute Morgen ganz besorgt und zärtlich gesagt: ›Pass auf dich auf, ich freue mich auf den 8. Januar.‹ Das meinte er auch so.«
Ediths Stimme war hämisch.
»›Pass auf dich auf‹, was soll er sonst sagen? Er hat noch nicht mal angerufen und gefragt, wie deine Fahrt ist. Aus den Augen,
aus dem Sinn. Du musst schon selbst auf dich aufpassen, sonst kommst du bei der Geschichte unter die Räder.«
Richard, ruf an, dachte ich mit einer Inbrunst, die mich selbst überraschte.
Als ich heute Morgen ging, stand er nackt in der Haustür und lächelte mir nach. Bei der Erinnerung bekam ich weiche Knie.
|204|
»Es ist Liebe«,
sagte Charlotte.
»Es fängt schon an, wehzutun. Denk an Franziska«,
sagte Edith.
Ich betrachtete das Meer, das vom Hindenburgdamm durchtrennt wurde. Wasser beruhigte mich.
Vielleicht hatten ja alle Recht.
Edith damit, dass die Gefühle zwischen Richard und mir nicht ausreichen würden, um Dinge zu ändern, die zu ändern wären.
Charlotte damit, dass man Glück hat, so ein Gefühl zu erleben und damit geduldig und liebevoll umgehen muss.
Franziska damit, dass Liebe ohne Zukunft quälend wird.
Nina damit, dass man nur mit einem Partner die Einsamkeit besiegt.
Luise damit, dass wir das Beste verdient haben und uns nicht mit halben Sachen begnügen müssen.
Dorothea damit, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann.
Marleen damit, dass alles so kommt, wie es kommen soll.
Wir rollten auf die Insel, die Scheiben waren von der Kälte beschlagen.
Ich hatte gedacht, ich hätte das Leben begriffen. In diesem Moment hatte ich keine Ahnung, was es mit mir machte. Manche Dinge
taten mir gut, andere taten mir weh. Ich würde es mit der Zeit herausfinden.
Mein Handy klingelte. Im Display erschien der
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